Der kleinste Kuss der Welt (Mathias Malzieu)

carl’s books (August 2015)
Originaltitel: Le plus petit baiser jamais recensé
Originalverlag: Flammarion, Paris 2013
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Klappenbroschur, 156 Seiten, 12,99 EUR
ISBN: 978-3-570-58547-4

Genre: Phantastische Liebesgeschichte


Klappentext

Ein melancholischer Erfinder trifft bei einem Tanzabend auf die atemberaubend schöne Sobralia. Doch als er allen Mut zusammennimmt und ihr einen flüchtigen Kuss gibt, wird sie unsichtbar. Mithilfe eines magischen Papageis gelingt es ihm, die unsichtbare Schöne wiederzufinden. Doch Sobralia wagt nicht, ihrem Verehrer ihr wahres Gesicht zu zeigen …


Rezension

„Der kleinste je verzeichnete Kuss. Eine Tausendstelsekunde, Samt und Flaum inklusive. Kaum mehr als ein Hauch, ein Origami. Der Anflug eines Kurzschlusses. Ein gegen Null tendierender Feuchtigkeitsgehalt, eine Substanz wie Schattenstaub …“ (Seite 9)

An einem Tanzabend erlebt ein melancholischer Erfinder ein wahres Gefühlsbeben: Er sieht eine traumhaft schöne Frau und nimmt allen Mut zusammen, um ihr den kleinsten Kuss der Welt zu stehlen. Und dann ist sie einfach verschwunden. Unsichtbar. Doch sie hat eine Blume im Bombenkrater seines Herzens hinterlassen und der Erfinder, dessen Erfindungen oftmals nicht richtig funktionieren, setzt alles daran, sie wiederzufinden. Er wendet sich an einen Privatdetektiv, der auf das Aufspüren von liebreizenden Frauen spezialisiert ist. Eigentlich ist der Detektiv längst im Ruhestand, doch er leiht dem Erfinder seine Geheimwaffe: Einen Papagei, der Frauen durch einen Geruch oder auch einen Geschmack oder den Klang ihres Atems wiederfinden kann …

„Mein Gehirn ist von blauen Flecken übersät, die nicht verblassen wollen. Ich bin ein Dachbodenmensch. Ich kann keine Erinnerungen wegwerfen, ich bewahre sie alle auf.“ (Seite 19)

Trotz aller Euphorie, die den Erfinder zu einem liebeskranken Superromantiker mutieren lässt, erkennt man recht schnell, dass er eigentlich ein tieftrauriger Mensch ist, der sein zerbrochenes Herz in einem Karton mit sich herumträgt. Er selbst sagt, er habe den Weltkrieg der Liebe verloren, und trotzdem hängt er noch an seiner Ex-Lieblingspraline. Während seiner hingebungsvollen Suche nach der unsichtbaren Frau kann er dies zwar vergessen, doch die Vergangenheit holt ihn bald wieder ein. Und als er Sobralia dann tatsächlich findet, ist er innerlich zerrissen und kann sich trotz der starken Gefühle für seine unsichtbare Traumfrau nicht für sie entscheiden. Und Sobralia schafft es nicht, sich ihm zu zeigen, denn auch ihr Herz ist zerstört.

„Jemandem mit derart schweren Liebesschäden zu begegnen, war ein ebenso beängstigendes wie beruhigendes Gefühl. Sie war ein Melancholiemonster und hatte sich selbst solche Angst eingejagt, dass sie ihre Unsichtbarkeit einfach hinnahm.“ (Seite 49)

Sobralia war schon immer blass und unscheinbar – und sobald sie jemanden küsst, wird sie unsichtbar. Je mehr sie denjenigen mag, desto länger sieht man sie nicht mehr. Deswegen sind all ihre Beziehungsversuche gescheitert. Unser Protagonist und seine Angebetete sind also beide gebrochene Menschen, die die Wunden ihrer Vergangenheit lecken und sich daher nicht auf die Gegenwart einlassen können. Das mag auch der Grund sein, warum „Der kleinste Kuss der Welt“ nach einer schwerromantischen und skurrilen erste Hälfte einen Teil seines atemberaubenden Zaubers einbüßt. Die Realität schlägt erbarmungslos zu und als Leser wird man schmerzhaft aus einem Traum voll liebenswerter Charaktere und skurrilen Ideen gerissen.

„Mit meinem Winterkleid vom vergangenen Jahr, das nach ranzigem Glück roch, machte ich den Menschen Angst.“ (Seite 60)

Das Hauptproblem ist die ehemalige Liebste des Erfinders. Er hängt immer noch an ihr und bald spielt die Verflossene eine gewichtige Rolle in der neuen Liebe. Mathias Malzieu beschreibt dieses Dilemma zwar überaus treffend und mit gewohnt außergewöhnlicher Metaphorik, doch in einer so liebenswerten Geschichte wie um den kleinsten Kuss der Welt will man eigentlich nichts von realistischen Problemen wissen. Man ersehnt eher, dass sich die beiden wirklich finden und gegenseitig ihre gebrochenen Herzen verarzten. Stattdessen wird alles kompliziert und die Magie verpufft zusehends, was mitunter an der Vorhersehbarkeit wichtiger Handlungselemente liegt. Zudem erscheinen 125 Seiten  zu wenig für die Komplexität, die die Geschichte in der zweiten Hälfte entfaltet.

Mancher Leser, der sich bereits in „Die Mechanik des Herzens“ verliebte, wird also enttäuscht sein. Nichtsdestotrotz kann auch „Der kleinste Kuss der Welt“ mit seiner treffsicheren, kunstvollen Sprache punkten, die sich auch in der Übersetzung phantastisch liest. Mathias Malzieus Sätze sind einfach purer Lesegenuss, bei dem gefühlt jedes Wort auf der Zunge zergeht. Hinzukommen viele kleine skurrile Ideen wie der Papagei, der nicht nur Frauen aufspürt, sondern auch Nachrichten speichern und wiedergeben kann. Und der Erfinder hat allerhand seltsame Erfindungen zu bieten, wie beispielweise einen Mundharmonikabaum, der später auch andere Instrumente hervorbringt. Außerdem gelingt es ihm, Gefühle in Schokoladenpralinen einzufangen.

Das Cover von Künstler Benjamin Lacombe ist eine wahre Augenweide und fängt die Zartheit der ersten Hälfte des Kurzromans gekonnt ein. Das kleine Klappenbroschur ist wunderschön gestaltet und im Anhang finden sich die kleinen (Liebes-)Sprüche und Gedichte, mit denen der Erfinder seine Sobralia beglückt hat. Ein Beispiel: „Du hast in meinem Bett einen Liebesbrunnen gegraben. Auf einen zweiten bin ich im Badezimmer gestoßen, und in meinem Koffer hast du ein faltbares Modell untergebracht. Ich muss noch lernen, daraus zu schöpfen, ohne dich zu erschöpfen.“


Fazit

„Der kleinste Kuss der Welt“ ist in der ersten Hälfte eine unheimlich liebreizende und wahnsinnig romantische Geschichte voll skurriler Ideen, die ein Lächeln auf die Lippen des Lesers zaubern. Leider büßt der Roman in der zweiten Hälfte einen großen Teil seiner Magie ein, da sich Mathias Malzieu mehr der Realität und einem schmerzhaften Liebesdilemma zuwendet. Trotzdem kann der Autor auch dieses Mal mit seiner außergewöhnlichen und treffsicheren Metaphorik begeistern.


Pro & Contra

+ wunderbar romantische erste Hälfte
+ jede Menge skurriler Ideen
+ liebenswerte Charaktere
+ die Liebe in all ihren Facetten
+ treffsichere, tolle Metaphorik
+ traumhaftes Cover

- in Teilen vorhersehbar
- Magie geht in der zweiten Hälfte verloren

Wertung: sterne4

Handlung: 3/5
Charaktere:  4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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