emons: (Oktober 2015)
Broschierte Ausgabe
320 Seiten, 11,90 EUR
ISBN 978-3-95451-720-6
Genre: Historischer Abenteuer- / Kriminalroman
Klappentext
Lübeck, 1376: Als der Hansekaufmann Jacob Wallersen das Familiengeschäft übernimmt, tritt er ein folgenschweres Erbe an: Ihm wurden zahlreiche Verbindlichkeiten und dubiose Geschäftsbeziehungen hinterlassen. Bald droht ein Strudel aus Schulden und Gewalttaten die Familie in den Abgrund zu reißen. Während Jacob verzweifelt einen Ausweg sucht, befindet sich das letzte Schiff der Familie auf dem Heimweg nach Lübeck. Doch auf die Seeleute lauern nicht nur die Piraten Gotlands, die sich ihrer wertvollen Fracht bemächtigen wollen, und für Jacob beginnt ein fataler Wettlauf gegen die Zeit …
Rezension
Durch den plötzlichen Tod des Vaters und des ältesten Bruders findet sich Jacob Wallersen unverhofft und vollkommen unvorbereitet als Familienoberhaupt wieder. Mit einem mulmigen Gefühl tritt er pflichtbewusst das Erbe an und gerät prompt mit seiner verwöhnten Schwester aneinander. Doch wie sich bald zeigt, ist der Familienstreit sein geringstes Problem: Der Vater hat ihm einen Berg Schulden hinterlassen und sich obendrein mit kriminellem Abschaum eingelassen, die die Wallersens offen bedrohen. Eine Hiobsbotschaft jagt die nächste. Um seine Familie vor dem Ruin zu bewahren, bleibt Jacob nur die Hoffnung auf die „Stolzer Jacob“, das letzte Handelsschiff, das vor dem Winter wertvolle Pelze nach Lübeck bringen soll.
Der Seemann Matt ist der Navigator des Schiffes und steht den Wallersens sehr loyal gegenüber, da Jacobs Vater ihn einst aus der Gosse geholt hat. Insofern weiß sich Matt zu benehmen, ganz im Gegenteil zu seinen Kameraden, die sich betrinken und eine Schlägerei anfangen. Zu allem Übel ist der Kapitän ein unfähiger Saufkopf, der ihnen bei einem Piratenangriff die einstige Fluchtmöglichkeit nimmt … Während die „Stolzer Jacob“ noch in Reval vor Anker liegt, schlägt sich die abgemagerte Waise Svanja mit Diebstahl durch. Bei einem Streit wird sie schwer verletzt und kann sich mit letzter Kraft auf das Lübecker Handelsschiff flüchten, wo sie sich zwischen den Pelzen verkriecht – nicht ahnend, auf welch gefährliche Reise sie sich begibt.
„Im Schatten der Hanse“ ist die Geschichte dreier ganz unterschiedlicher Menschen, mit denen es das Schicksal nicht sonderlich gut meint. Jacob ist eigentlich eine Künstlerseele und wurde als Zweitgeborener nie wirklich auf die Rolle als Kaufmann und Familienoberhaupt vorbereitet. Entsprechend ist er von den horrenden Schulden überfordert und lässt sich zunächst von dem kriminellen Pack, mit dem sein Vater sich eingelassen hat, erpressen. Als er jedoch herausfindet, dass Vater und Bruder ermordet wurden, will Jacob aktiv werden. Dabei macht er viele Fehler und die Familie muss weitere Schicksalsschläge verkraften. Da Jacob eigentlich ziemlich sympathisch ist, tut er einem richtig leid, vor allem, da ihm auch noch die eigene Schwester in den Rücken fällt. Im Gegensatz zu den gut ausgearbeiteten Protagonisten ist Jacobs Schwester ein egoistisches Miststück, das weder Anstand noch charakterliche Tiefe besitzt.
Matt ist ein eher rauer, aber ehrlicher Typ, der an seinem positiven Lebenswandel festhalten will, selbst wenn er sich als Gefangener in einem Piratenversteck wiederfindet. Als Seemann glänzt er mit Erfahrung und Können, in zwischenmenschlichen Beziehungen ist er jedoch meist zu gutmütig. Svanja kommt diese Eigenschaft zu Gute, denn Matt ist seit langem der erste wirkliche Freund, der keine schmutzigen Hintergedanken hegt. Zwischen dem gewitzten Straßenmädchen und dem schroffen Seemann entwickelt sich eine Freundschaft, in der sie sich gegenseitig das Leben retten. Bei dieser Freundschaft bleibt es auch, was sich sehr angenehm liest, denn eine kitschige Liebesgeschichte würde hier nicht passen. Beide sind auf ihrer Reise gezwungen, für ihr Überleben Dinge zu tun, die sie verabscheuen. Trotzdem gelingt es ihnen, sich selbst treu zu bleiben.
„Im Schatten der Hanse“ ist mehr ein historischer Abenteuer- denn ein Kriminalroman, denn der wahrscheinliche Mord an Vater und Bruder steht nicht im Mittelpunkt der Geschichte. Vielmehr geht es um die vertrackte Situation von Jacob sowie um die abenteuerliche Seereise von Reval nach Lübeck, inklusive Piratenüberfall. Das mittelalterliche Leben erscheint dem Leser dabei durchgehend düster, wie ein dreckiger Überlebenskampf. Mord und Totschlag scheinen an der Tagesordnung zu stehen und die Armut ist beklemmend. Zudem ist der Roman nichts für schwache Nerven, denn man wird unter anderem mit Abscheulichkeiten wie Menschenhandel und Vergewaltigung konfrontiert (was allerdings nicht breitgetreten wird). Henning Mützlitz hat zudem einige widerwertige Nebencharaktere erschaffen, die man am liebsten am Galgen baumeln sehen würde.
Trotz aller Düsternis überzeugt die Atmosphäre des Romans, denn man hat durchweg das Gefühl, tatsächlich im Lübeck des vierzehnten Jahrhunderts beziehungsweise in einer Kogge auf hoher See unterwegs zu sein. Die Sorgen und Nöte der Protagonisten sind jederzeit nachzuvollziehen und man leidet regelrecht mit ihnen, da jedes Fünkchen Hoffnung schnell wieder in den Staub getreten wird. In der zweiten Hälfte des Romans bringen zwei taffe Damen etwas Licht in die dunkle Handlung, wobei beide abgebrüht und nicht unbedingt liebenswert erscheinen. Als Leser freut man sich über diese starken Charaktere, die trotz aller Gewalt, die sie erfahren haben, weiterkämpfen und schließlich ein bisschen Glück in ihrem tristen Leben finden. Zum Ende hin zieht das Erzähltempo stark an und obgleich die letzten Kapitel versöhnlich sind, fehlt ihnen etwas. Da hätten fünfzig Seiten mehr gut getan.
Fazit
„Im Schatten der Hanse“ ist ein düsterer Abenteuerroman in einem schmutzigen, historischen Gewand. Die drei Protagonisten kämpfen um ihr Überleben und trotzen einer Welt, in der sich jeder selbst der nächste ist und in der man bereit sein muss, zu töten, wenn man nicht selbst aufgeschlitzt in der Gosse landen will. Der atmosphärische Schreibstil zeichnet das vierzehnte Jahrhundert gleichermaßen finster wie lebendig und macht „Im Schatten der Hanse“ zum einem rauen und spannenden Leseerlebnis.
Pro & Contra
+ drei ganz unterschiedliche, kantige Protagonisten
+ starke, weibliche Nebencharaktere
+ finstere, dreckige Mittelalteratmosphäre
+ spannender Abenteuerroman
+ authentischer Schreibstil
+ Betrug und Intrigen
+ ansprechende Covergestaltung
o einige richtig fiese, ekelhafte Kerle
- übereiltes Ende
- Jacobs charakterlose Schwester
Wertung:
Handlung: 3,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5
Interview mit Henning Mützlitz und Christian Kopp