Das Licht der letzten Tage (Emily St. John Mandel)

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Piper 2015
Originaltitel: Station Eleven (2014)
Übersetzt von Wiebke Kuhn
Klappbroschur, 410 Seiten
€ 14,99 [D] | € 15,50 [A] | CHF 21,90
ISBN: 978-3-492-06022-6

Genre: Belletristik, Fantasy


Inhalt

Während einer Aufführung von King Lear in einem Theater in Toronto bricht der 51-jährige Hauptdarsteller Arthur Leander tot zusammen. Innerhalb der nächsten Wochen rafft eine Grippe-Pandemie 99% der Erdbevölkerung dahin. Eine der Überlebenden ist die achtjährige Schauspielerin Kirsten Raymonde. Zwanzig Jahre später ist Kirsten Mitglied des Wandertheaters "Die Fahrende Symphonie", in einer Welt ohne Grenzen und Nationalstaaten. Es gibt weder Elektrizität noch Medikamente oder fließendes Wasser. Es existieren nur noch kleine verstreute Siedlungen. Das Ensemble besucht diese Orte und absolviert dort Shakespeare-Aufführungen und Konzerte.

Die Gruppe hat ein Motto, der Fernsehserie Star Trek: Voyager entnommen: "Überleben allein ist unzureichend.", Kirstens liebste Textzeile. Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr trägt sie diesen Text als Tattoo auf ihrem linken Unterarm. Kirstens Erinnerungen an ihre Mutter verblassen langsam, die an Arthur Leander haben obsessive Züge angenommen. Kirsten sammelt alles Material, alle Informationen, die sie über den einstigen Hollywood- und Theaterschauspieler findet. Diese verwahrt sie in einer Tasche, in der sie auch zwei Bände einer Comicreihe hat, in der es um den Physiker Dr. Eleven geht, der seit seiner Flucht vor außerirdischen Invasoren auf einer Raumstation lebt.


Besprechung

Eine Shakespeareaufführung mit Todesfall, Hinweise auf die Pandemie (Georgische Grippe), eine kurze Übersicht über die Folgen ("Eine unvollständige Liste: Es war vorbei mit….") – so beginnt Emily St. John Mandels vierter Roman, Das Licht der letzten Tage. Dann gibt es einen Zeitsprung von zwanzig Jahren. Die Gegenwartshandlung wird oft unterbrochen durch lange Rückblicke auf die Zeit vor und während der Pandemie. Wir erfahren viel über Arthur Leanders Leben, seine drei Ehen, die Entwicklung seiner Karriere. Arthurs erste Ehefrau, Miranda, ist die Verfasserin der Comics über Dr. Eleven. Die beiden ersten Ausgaben schenkte sie Arthur, der sie an Kirsten weitergab.

Mandel zeigt sich kaum interessiert an dem Material, das die große Menge an Dystopien und Endzeitgeschichten der Gegenwart ausmacht. Die Überlebenden machen weiter wie zuvor, lediglich die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Es gibt keinen übermächtigen Staat und keine postapokalyptischen Vertreter der Organisierten Kriminalität. Es gibt nur einen kleinen Ort, dessen Bewohner durch eine herrschende Person gelenkt werden. Der Neubeginn beinhaltet (grundsätzlich) zugleich die Vision einer Gesellschaft Gleicher unter Gleichen.

Seltsam ist, dass diejenigen, die die Katastrophe erlebt haben, dadurch nicht beeinflusst zu sein scheinen. Sie spielt in ihrer neuen Existenz, die sich nur wenig von der alten unterscheidet, so gut wie keine Rolle. Auch scheint es keinen täglichen Überlebenskampf zu geben oder gegeben zu haben, lediglich kurze Hinweise deuten an, dass es in den Anfangsjahren der neuen Zeitrechnung gelegentlich gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Menschen gegeben hat, der Normalfall seit Beginn der Menschheitsgeschichte also.

Irgendwann kommt die Theatertruppe in den Ort St. Deborah by the Water, wo sie zwei Jahre zuvor ein Paar zurückgelassen hat, das ein Kind bekam. Von der Familie gibt es jedoch keine Spur mehr. Und der Ort steht mittlerweile unter der Kontrolle eines religiösen Fanatikers, der sich "Der Prophet" nennt und einen Hund hat, der Luli heißt, wie Mirandas Hund und der Zwergspitz aus dem Comic "Dr. Eleven". Der Prophet nimmt gerne Mädchen zur Frau, seine geplante vierte Kindsbraut ist zwölf, heißt Eleanor und flieht aus dem Ort, folgt der Gruppe, die sie mitnimmt und dadurch in große Gefahr gerät. Spätestens hier fällt auf, dass die Pandemie offensichtlich nahezu alle schlechten oder bösen Menschen aus der Welt beseitigt hat.

Auf ihrer Suche nach der jungen Familie kommt die Theatergruppe nach Severn City, einen Ort mit wenig mehr als 300 Bewohnern, in dessen Flughafengebäude ein Zivilisationsmuseum eingerichtet wurde, in dem man solche Dinge wie Kreditkarten, Handys und Laptops besichtigen kann.

Standard in der postapokalyptischen Szenerie und in Dystopien ist eine negative Weltentwicklung, in der ebensolche Kräfte die Gegenwart bestimmen und eine herausragende Figur, nicht selten ein Kind, die wenigen rechtschaffenen Menschen, die es noch gibt, vor dem Bösen schützt und in eine bessere Zukunft führt. Mandel weicht von diesem Standard ab. Sie entwirft ein Szenario, in dem nicht die menschliche Zivilisation zusammenbricht, sondern der Stand der Technik und die Anzahl der Menschen dramatisch zurückgefahren werden. Die verbleibenden Menschen finden eine relativ intakte Zivilisation vor, in der sie sich verhalten wie immer, außer dass sie eben einen anderen Stand der Technik vorfinden, aber nicht in die technologische Steinzeit und in das ethische Mittelalter transportiert werden. Die Menschheit steht nach der Katastrophe nicht einmal mit dem Rücken zur Wand. Man überwindet Anpassungsprobleme, ist getragen von Hoffnung und erfährt, dass Kunst, insbesondere in Form des Wandertheaters, das Leben erleichtert und in der Lage ist, Hoffnung keimen zu lassen. Die Frage, welche Art von Hoffnung und warum Hoffnung, ist im Roman unbedeutend.

Die Organisation des Materials vernebelt ein wenig den dünnen Plot und die oberflächliche Gestaltung vieler Charaktere. Miranda lebt ein paar Jahre mit einem Mann zusammen, schläft mit einem Hollywoodschauspieler und zieht danach bei diesem ein, um sich erst beruflich auszuprobieren und dann übergangslos eine Magnatin zu werden, die nebenbei Comics zeichnet. Manche Figuren sind austauschbar und nur aufgrund ihrer Namen zu unterscheiden. Hingegen Arthur Leander ist ein hervorragend entwickelter Charakter.

Nicht unproblematisch ist die Pandemiefolge, die unter "Knappheit" gefasst wird. Zumindest der geografische Raum, in dem die Handlung spielt, ist vor der Pandemie geprägt durch Überfluss und eine hervorragende Infrastruktur. Zugleich rafft die höchst effektive Grippe in wenigen Wochen den Großteil der Menschheit dahin. Eine im Vergleich zu vorher kaum mehr vorhandene menschliche Population sieht sich (nicht erst nach zwanzig Jahren, sondern in der "Zeit danach") abwesenden Produktionsmöglichkeiten (Technik, Rohstoffe etc.) ausgesetzt, was nur schwer nachvollziehbar ist. Eigentlich finden sie Bedingungen wie im Schlaraffenland vor, wenn sie als wenige Überlebende Strukturen nutzen können, die für eine hochstellige Millionenzahl geschaffen wurden.

Warum gibt es keinen Strom? Im Nordamerika vor der Pandemie gab es Anlagen für die Produktion regenerativer Energien (z.B. Sonnenkollektoren) zuhauf, sowohl als große Parks wie auch skaliert auf die Betreibung und Nutzung durch private Haushalte. Und unabhängig von der aktuellen Klimadiskussion: In den USA und Kanada müssten die Überlebenden Unmengen fossiler Energieträger vorgefunden haben. Sie müssen ja nicht gleich die noch vorhandenen Kohlekraftwerke weiter betreiben. An diesem Problem ändert auch eine Szene gegen Ende des Buches nichts, in der durch ein Fernrohr ein Ort lokalisiert wird, der mit einer großen Überraschung aufwartet. Warum sind - wenig krankheitsanfällige - Bücher eine so extreme Seltenheit. Man muss der Autorin vieles glauben wollen, was sie nicht thematisiert, damit ihre Geschichte funktioniert, auch wenn sie am Weltenbau gar nicht interessiert ist.

Mandel erzählt von drei Gruppen von Menschen. Die Menschen aus den beiden ersten Gruppen haben die Pandemie miterlebt, ein Teil von ihnen war zu jung, um in der postapokalyptischen Zeit Erinnerungen angehäuft zu haben, der andere Teil verfügt mit zunehmendem Alter über ein größer gewordenes Erinnerungsarchiv. Die Mitglieder der dritten Gruppe wurden danach geboren. Melancholisch wird die Erzählung, wenn Menschen sich erinnern, traurig wird sie, wenn diese Erinnerungen Verluste beinhalten.


Fazit

Emily St. John Mandel erzählt in Das Licht der letzten Tage vom Neubeginn der Menschheit nach einer Pandemie. Sie verbindet über Rückblenden zwei Zeitebenen (vor/während der Pandemie und danach) miteinander und beschreibt mehr eine Sammlung von Tableaus, als dass sie eine handlungsbestimmte Geschichte erzählen würde. Ein seltsamer Hybrid aus einem guten Gesellschaftsroman und einem weniger geglückten Werk der Fantasy (postapokalyptische spekulative Fiktion ohne SciFi-Komponente).


Pro und Kontra

+ hoffnungsvolle Geschichte eines Neubeginns
+ schön geschriebener Gesellschaftsroman

- überwiegend flache Hauptfiguren
- nicht frei von Ungereimtheiten

Wertungsterne3.5

Inhalt: 3,5/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 4/5