Zürich 1972
Diogenes (derzeit nur antiquarisch erhältlich)
Originaltitel: An Air That Kills (1957)
Übersetzung von Georg Kahn-Ackermann und Susanne Feigl
Gebunden, 274 Seiten, ISBN 987-3-257-01486-4 (Ausgabe: Diogenes 1972)
Taschenbuch, 171 Seiten, ISBN 978-3-436-01931-3 (Ausgabe: Fischer 1974)
Taschenbuch, 274 Seiten, ISBN 978-3-257-20926-6 (Ausgabe: Diogenes 1981)
Genre: Thriller
Die Rezension basiert auf der englischen ebook-Ausgabe von Syndicate Books (datiert 2016, erschienen 8.12.2015), aus der auch Passagen übersetzt wurden.
Rezension
Der reiche kanadische Familienvater Ron Galloway hat sich mit vier Freunden in seiner Lodge an der Georgian Bay unweit Wiarton verabredet. Unterwegs will er seinen besten Freund Harry Bream abholen. Sie alle sind Ende dreißig und wollen sich fernab vom Druck durch Familie und Arbeit ein nettes Wochenende machen. Bill Winslow arbeitet in der Firma seines Vaters, Joe Hepburn ist Manager, Ralph Turee außerordentlicher Professor für Ökonomie an der University of Toronto, Harry Bream Pharmavertreter. Turee verdient am wenigsten von ihnen, ist aber der Intelligenteste und zeigt den anderen gerne ihre Grenzen auf. Trotzdem vertragen sie sich gut, „vor allem nachdem sich kleine Differenzen in Alkohol aufgelöst haben.“
Harry trifft erst kurz vor Mitternacht ohne Ron in der Lodge ein. Angeblich musste er wegen eines Notrufs nach Mimico und ist von dort direkt weitergefahren. Als Ron nach Stunden immer noch nicht in der Lodge ist, sorgt sich Turee und ruft bei Rons Frau Esther und Harrys Frau Thelma an. Thelma schockiert ihn: Sie ist schwanger von Ron und will ihn heiraten. Sie hat es Ron gesagt, als er Harry abholen wollte. Ron ist schon vor Stunden mit seinem Cabrio von ihr weggefahren.
Thelma verlässt Harry. Ron bleibt verschwunden, bis seine Leiche aus der Georgian Bay geborgen wird. Polizei, Familie und Freunde sind überzeugt, dass Ron aus Verzweiflung über sein verpfuschtes Leben in den Tod gerast ist.
Dass etwas nicht stimmt in der Ehe der Galloways wird schon auf den ersten Seiten klar, als Ron sich von seiner Familie verabschiedet. Die Stimmung ist gereizt, denn Esther vermutet, dass er eine Affäre mit Thelma hat. Ron bestreitet dies überzeugend, aber Esther weiß, dass er mit der gleichen Überzeugung seine erste Frau Dorothy belog, als er sich mit ihr traf. Esther traut weder Thelma noch ihrem Mann, der labil und leicht manipulierbar ist und sich und der Welt vorzutäuschen versucht, ein Sportler zu sein. So hat er eine Lodge am See und ein Boot, dabei fürchtet er sich vor Wasser. Er geht Angeln, obwohl er das Angeln gar nicht mag, sein Leben besteht aus Selbsttäuschungen und Lügen. Esther ist zu intelligent für ihn, durchschaut seine Manöver. Das frustriert ihn ebenso wie das herzlose und egoistische Verhalten seiner beiden Söhne, des siebenjährigen Gregory, der bereits ein Opportunist ist, und des fünfjährigen Marvin. Sein Zuhause erstickt ihn, macht ihn panisch.
Ron beginnt eine Affäre mit der Frau seines besten Freundes, erfährt, dass sie von ihm schwanger ist, verliert den Kopf und begeht Selbstmord, indem er von einer Klippe in den Tod rast. So wird der erste Teil des Romans zwar nicht erzählt, aber gelesen. Zuvor telefoniert er mit seiner Exfrau und schreibt seiner aktuellen Ehefrau einen Abschiedsbrief. Als er auf der Fahrt in den Tod versehentlich einen Hund überfährt, steigt er nicht einmal aus, sondern wirft nur seine Brieftasche aus dem Cabrio: Ein Toter braucht keine teure Börse aus Alligatorleder. Alles fügt sich zusammen.
Ganz anders die Ehe der Breams. Sie ist vorbildlich, makellos, unbelastet durch Seitensprung, Scheidung, Streit. Alle lieben den liebenswerten, kindlich naiven Harry, der für jedes körperliche und seelische Problem eine Pille hat und die Augen vor der Wirklichkeit verschließt, vor allem was seine Ehe betrifft. Thelma ist eine „verfettete kleine Hausfrau, bei der ein paar Schrauben locker sind“, die keine eigene Meinung hat, keine eigene Entscheidung trifft, Harry in allem widerspruchslos folgt. Es sind schlichte, ein wenig lächerliche Gemüter mit einigen seltsamen Eigenarten. Doch ein Problem haben sie: Thelma wünscht sich ein Kind, Harry findet das wegen ihres Alters zu riskant.
Als Rons Leiche aus der Bucht gefischt wird, fügen sich alle Steine perfekt zu einem Puzzle. Niemand zweifelt mehr an einem Ehedrama. Trotzdem macht sich ein beklemmendes Gefühl breit. Es gibt Andeutungen, vage Hinweise. So denkt die Tochter der Hundebesitzerin, dass der Cabriofahrer vielleicht ein Mörder auf der Flucht ist. Turee bemerkt nach dem Telefonat mit Thelma den „Geruch von Täuschung und Verrat im Wind und im Wasser.“
Bis kurz vor Ende weiß man nicht, ob Millar eine tragische Liebesgeschichte erzählt, die mit der Zerstörung zweier Familien und dem Selbstmord eines Menschen endet, oder die Geschichte eines perfekten Mordes. Millar erzählt von der Unzufriedenheit der Menschen, die in die Tragödie mündet, vom traurigen Konsumismus der fünfziger Jahre und der Kollision von Moralvorstellungen und Gesetzen mit der Lebenswirklichkeit, von Täuschung und Selbsttäuschung. Dabei führt sie den Leser mit falschen Fährten, Doppeldeutigkeiten und vagen Anspielungen an der Nase herum, um die Geschichte in einer überraschenden, aber stimmigen Pointe münden zu lassen. Von hinten aufgerollt, versteht man die Ereignisse und die Psychologie der Figuren erst richtig.
Der Originaltitel An Air That Kills ist ein Zitat aus einem Gedicht von A. E. Housman (Into my heart an air that kills, 1886), das dem Buch vorangestellt ist. Millars Roman erschien erstmals 1972 in deutscher Übersetzung, bei Diogenes in Zürich. Es folgte 1974 eine Lizenzausgabe als Fischer Taschenbuch 1484.
Fazit
Margaret Millars Die Süßholzraspler ist ein intelligenter, spannender Thriller, wobei lange unklar bleibt, worum es geht: ein tragisch endendes Ehedrama oder den perfekten Mord. Raffiniert, kühl und perfekt durchkalkuliert bis auf die letzte Stelle hinterm Komma.
Pro und Kontra
+ brillanter Plot mit überraschender Wendung, bissiger Humor
+ kompromisslose Sicht auf Ehe, Familie, Freundschaft
+ psychologisch stimmige Figuren, düstere, beklemmende Atmosphäre
Wertung:
Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5
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