Ein sterbender Mann (Martin Walser)

walser sterbendermann

Rowohlt, 8.1.2016
Gebunden, 287 Seiten
€ 19,95 [D] | € 20,60 [A] | 28,90 CHF
ISBN: 978-3-498-07388-6

Genre: Belletristik


Inhalt

Theo Schadt, ein 72 Jahre alter Unternehmer und, wie er selbst sich nennt, Nebenherschreiber, wurde von dem Dichter Carlos Kroll, seinem einzigen Freund, verraten. Carlos gab vertrauliche Informationen über ein Investitionsprojekt an den Konkurrenten Oliver Schumm weiter, Theo ging Konkurs und arbeitet seitdem im Tangomodeladen seiner Ehefrau Iris. Theo, des Lebens müde, meldet sich im Internet unter dem Nickname Franz von M. in einem Suizidforum an, um etwas zu erfahren über eine geeignete Methode und den richtigen Zeitpunkt zum Ableben. Im Forum lernt er eine Frau kennen, die sich Aster nennt. Asters düstere Selbstinszenierung beeindruckt und stimuliert Theo. Im Tangoladen begegnet er Sina Baldauf, für die er bald seine Frau verlässt und mit der er in einen Briefwechsel eintritt.


Rezension

Wie die von Theo geliebten Frauen Namen von Blumen tragen, so hat Walser stilistisch einen bunten Strauß arrangiert, bestehend aus Gesprächen, Beiträgen und privaten Nachrichten (PN) im Suizidforum, SMS und E-Mails, Gedichten und einer Laudatio, abgeschickten und nicht abgeschickten Briefen, Träumen, Gedanken und Aphorismen Theos, Berichten an die Regierung, einem Reisebericht Sinas für Theo, unspezifizierten Texten, die Tagebucheinträge sein können, aber auch höherinstanzliche Reflektionen Theos. Theo schreibt an Aster und Sina Baldauf, an seine Frau Iris und seine Tochter Mafalda.

Die Beziehung zwischen Theo und dem namentlich nicht genannten Schriftsteller, der Adressat einiger Ausführungen Theos ist, bleibt unklar. Vielleicht ist der Schriftsteller eine Instanz Theos. Theo wechselt gelegentlich zwischen der ersten und dritten Erzählperson, spricht sich selbst als Instanz an, die sich zu etwas äußern soll. Die Erzählung bewegt sich zwischen eleganter und glasklarer Hochsprache auf der einen, Kolportage, Umgangssprache und sexistischen Witzen, die nicht Theos Sache sind, auf der anderen Seite.

Walser beschäftigt sich in seinem Werk hin und wieder mit dem Kulturbetrieb, so auch hier. Blendend erzählt ist Kapitel 12, darin die Sitzung und Preisverleihung des Vereins für Gute Dichtung mit anschließendem Abendessen. Professor Hallhuber hält die Laudatio auf Carlos Kroll mit "Interpretation" einiger seiner Gedichte. Diese Sequenz lässt sich auch als Kommentar zu Vorbehalten und Abneigungen gegen anspruchsvolle oder sich als anspruchsvoll gebende Lyrik lesen.

Theos soziales Beziehungsgeflecht ist recht überschaubar. Er hat mit Carlos seinen bis zu dessen Verrat einzigen guten Freund. Theo ist mit Iris verheiratet, seiner göttlichen, wie er sie nennt. Beide haben eine Tochter, Mafalda, die während der Schulzeit eine Zeitlang Spitzmaus war und heute Meeresbiologin ist. Mafalda ist verheiratet mit Axel Port, einem Denker, der an seinem Projekt WeltLicht arbeitet, und zumindest in der Selbstdarstellung für Mafalda und seine Schwiegereltern ein Mörder zu sein behauptet. Theo verdächtigt Axel hier der Lüge.

Zu Beginn schreibt Theo, er beabsichtige den Suizid, weil er am Ende sei. Nicht weil er alt sei, sondern weil er am Ende sei. Nehmen wir ihn einfach beim Wort. Dann ist Ein sterbender Mann kein Roman über einen Mann, der sich aufgrund seines Alters dem Tode nahe fühlt oder den Tod ersehnt, sondern ein Roman über einen Mann, der, die Gründe dafür liefert die Erzählung, lebensmüde ist und deshalb einen Abschluss sucht. Mehr noch als der Verrat, belastet ihn die Tatsache, dass er Opfer eines solchen Verrates werden konnte. Theos Selbstbild bricht in sich zusammen, im Roman nachvollziehbar beschrieben. Es wirken mehrere kleine und große Faktoren.

Theo war immer erfolgreich, bis er in die Situation geriet, die vordergründig durch einen Sachverhalt motiviert schien, jedoch mehrere Ursachen hatte. Die für ihn in dieser Intensität und Häufung neuen negativen Gefühle verursachen erheblichen Stress. Theo sieht sich zur Bewältigung seiner Probleme außer Stande. Seine Situation verstärkt seinen Todeswunsch. Dann aber tritt etwas ein, was ihn tiefer atmen lässt, ihm langsam einen Grund gibt, weiteratmen zu wollen, seine Widerstandskraft wächst. Der Roman gibt hier eine Reihe von Hinweisen, nicht zuletzt auf den Zusammenhang von Tumorwachstum und Lebenswillen. Theo, der seit seiner Registrierung im Suizidforum viel im Internet aktiv ist, gelingt es, ein Virenschutzprogramm für sich zu nutzen, das bereits in ihm vorhanden, aber mangels Pflege anfällig gegen Angriffe war. Theos neue Erfahrungen führen dazu, dass er sich zunehmend auch mit sich auseinandersetzt, dass er seine Phantasie und seinen Humor re-aktiviert. Der Roman wird im Verlauf komischer, mit gelegentlich ironischem Ton.

Ein sterbender Mann ist stilistisch so offen, wie er inhaltlich verdichtet ist. Man mag Theos biografische Ausführungen bisweilen anzweifeln, besonders, wenn man das Buch als realistisches Werk liest. Walser setzt seinen Protagonisten in eine Reagenzglassituation, in der es diesem gelingt, allein aus dem Vorgang der kreativen Schöpfung, der Konstruktion von Sachverhalten und Zusammenhängen, in das Leben zurückzufinden. Das wiederkehrende Motiv des Tangotanzens ist eben nicht allein erotisch konnotiert, sondern der Tango stimuliert auch den Lebenswillen, wenngleich Theo nur passiv teilhat.

Walser hat zwar in der Vergangenheit sich mit dem Alter literarisch beschäftigt, in Ein sterbender Mann jedoch spielt es eher eine Rolle am Rand, weil es für den Protagonisten als Restriktion greift, der er sich nicht entziehen kann. Aber das Alter ist im Roman nicht die Krankheit, der man durch Tod entfliehen möchte, sondern eine Veränderung des Handlungsraumes, auch insoweit, als Taten durch Gedanken ersetzt werden.


Fazit

Im Zentrum des Romans befindet sich ein Mann, der sterben will, aber in das Leben zurückfindet, während das Leben um ihn herum zu einem guten Teil vergeht. Walsers Text ist anspruchsvolle und zugleich leicht lesbare Literatur, sprachlich schön und sehr unterhaltsam.


Pro und Kontra

+ kunstvolles Gewebe aus vielfältigen Formen und Stilen
+ blendendes literarisches Rollenspiel

Wertung: sterne5

Handlung 5/5
Charaktere 5/5
Lesespaß 5/5
Preis/Leistung: 4/5