Zürich (2000)
Diogenes (derzeit nur antiquarisch erhältlich)
Originaltitel: The Listening Walls (1959)
Übersetzung von Karin Polz
Taschenbuch, 288 Seiten
ISBN 978-3-257-21421-5
Genre: Mystery, Kriminalroman
Syndicate Books 2016
Die Rezension basiert auf der englischen ebook-Ausgabe von Syndicate Books (datiert 2016, erschienen 8.12.2015), aus der auch Passagen übersetzt wurden.
Inhalt
Amy Kellogg aus San Francisco macht mit ihrer Freundin Wilma Wyatt einige Tage Urlaub in Mexico City. Wilma stirbt bei einem Sturz vom Balkon ihres Hotelzimmers im vierten Stock. Amy erleidet einen Schock, wird ohnmächtig und verletzt sich beim Fallen. Sie wird vom Zimmermädchen Consuela gefunden. Die Polizei legt Wilmas Tod als Selbstmord zu den Akten. Wilma hatte ein schweres Jahr hinter sich, ihre zweite Scheidung, den Tod ihrer Eltern, eine Lungenentzündung. Sie war nervös, unglücklich und hatte sich an der Hotelbar mit einer Zufallsbekanntschaft, Dauergast Joe O’Donnell, betrunken.
Amy wird ins Krankenhaus gebracht. Ihr Mann Rupert fliegt noch am selben Tag nach Mexico City, um sie abzuholen. Einige Tage später händigt Rupert seinem Schwager Gill Brandon einen Brief von Amy aus, in dem sie sich schwere Vorwürfe wegen Wilmas Tod macht. Sie hätte Wilma retten können, wäre sie nicht so unreif und unentschlossen gewesen. Sie möchte eine Weile verreisen, um selbstständiger zu werden. Ihren Hund Mack will sie mitnehmen. Ein Ziel gibt sie nicht an. Auch Rupert weiß angeblich nicht, wohin sie gefahren ist.
Gill glaubt, dass Rupert Amy getötet hat, entweder weil er eine Affäre mit seiner Sekretärin hat oder sich Amys Vermögen aneignen will. Rupert besitzt nur eine kleine Buchhaltungsfirma mit bescheidenem Erfolg, wohingegen Amy aus einer reichen Familie stammt. Auf Gills Druck hin veröffentlicht Rupert eine Bitte-Melde-dich-Anzeige. Daraufhin erhält Gill Post von Amy aus New York.
Seine Zweifel bleiben und werden verstärkt als Rupert seiner Haushälterin fristlos kündigt, ein Scheintelefonat führt, sich in einer Bar mit einer mysteriösen Frau trifft. Außerdem gibt es einen Hinweis darauf, dass Amy Mack gar nicht mitgenommen hat. Gill engagiert den Privatdetektiv und Handschriftenexperten Elmer Dodd, um Amys Schicksal aufzuklären. Bald findet Dodd im Haus der Kelloggs einen Toten.
Rezension
Zwei Frauen machen gemeinsam Urlaub in Mexico City. Eine stirbt. War es Selbstmord oder Mord? Wilmas Tod bleibt mysteriös, weil Millar mit Ellipsen und dem Vagen arbeitet. Es gibt eine Reihe von Zeugen, Passanten auf der Straße, deren Aussagen sich jedoch widersprechen. Das Zimmermädchen Consuela spielt eine zentrale Rolle, aber es wird nicht ganz klar, was sie wirklich gesehen oder gehört hat. Sie ist eine zwielichtige Figur, bestiehlt die Gäste, belauscht von ihrer Besenkammer aus deren Gespräche, hört einen heftigen Streit zwischen Amy und Wilma mit, bei dem es um eine silberne Dose geht, die Wilma eigens für Rupert hat anfertigen lassen. Consuela schläft beim Lauschen in der Besenkammer ein und wird von einem Schrei aus dem Zimmer der beiden reichen Amerikanerinnen geweckt.
Ebenso unglaubwürdig wie Consuela ist Joe O’Donnell, der kleine schmierige Hochstapler, der die amerikanischen Gäste des Hotels um Geld anpumpt, das er nie zurückzahlt. Nach dem Auftakt der Geschichte verschwinden Consuela und Joe aus dem Fokus, um erst viel später wieder mitzuwirken - als der Leser sie eigentlich schon vergessen hat. Lange Zeit bleibt auch das Schicksal Amys unklar. Sie ist verschwunden. Ist sie wirklich nur verreist oder wurde sie ermordet?
Margaret Millar ist geschickt im Legen von falschen Fährten, im Schaffen von Irritationen, Unsicherheiten und ins Leere laufenden Erwartungen. An den entscheidenden Stellen blendet sie aus oder platziert sie Sätze, die wie Störfeuer wirken, den Leser misstrauisch machen: Rupert verspricht Amy, sie nach Hause zu bringen, zu ihren Sachen und ihrem Hund. "Es war ein Versprechen, das er, in diesem Moment, zu halten gedachte." Später erwartet sein Schwager Gill eine Melde-dich-Anzeige in der Zeitung. "Amy, komm nach Hause. Er konnte diese Buchstaben schon im Druck sehen, aber er wusste, Amy würde das niemals." Wobei unklar bleibt, ob Amy niemals die Buchstaben im Druck sehen oder nach Hause kehren wird.
Es gibt Hinweise darauf, dass zwei Morde passiert sind. Vor allem im Fall Amy gibt es zahlreiche Indizien, die dafür sprechen. Rupert hat zwar auf jede Frage eine Antwort, doch die könnte ebenso gut ein Beleg für seine Unschuld wie für sein Talent als Lügner sein.
Im Zentrum steht die Schilderung einer ungewöhnlichen Geschwisterliebe, die für Unstimmigkeit bei den Ehepartnern sorgt. Die Beziehung zwischen Amy und Gill ist so eng, dass Gills Frau Helene eifersüchtig ist und wünscht, Amy würde nie wiederkommen. Sie geht sogar soweit, hinter dem Rücken ihres Mannes Rupert aufzusuchen und ihm von Gills Verdächtigungen und Plänen zu berichten. Helene hasst ihre Schwägerin, weil Gill eine fast pathologische Beziehung zu ihr hat. Amy Kellog, 33 Jahre, sehr schön, zierlich, brünett, ein scheues Reh, ein braves Kind, das niemandem etwas zu Leide tun kann. So jedenfalls scheint es. Eine Frau, die sich von anderen herumschubsen lässt und keine eigenen Entscheidungen trifft. So sieht sie ihr Bruder. Ihr Mann liebt ihre Schönheit, ihr Bruder ihren Witz, und ihre Schwägerin denkt, dass Amy keins von beidem hat und nur eine Maus ist.
Millar spart nicht mit Zynismus und Ironie. So fragen sich die beiden Polizeibeamten und der Hotelbesitzer in Mexico City missbilligend, als sei Wilmas Tod ein Bruch der internationalen Etikette: "Warum ist sie gerade hier gesprungen, wo es doch so viele amerikanische Orte gibt, aus denen sie hätte wählen können? … Das Empire State Building … den Grand Canyon … die Brooklyn Bridge … die Niagara Fälle." Die Frage ist nicht unberechtigt.
Fazit
Margaret Millars Die lauschenden Wände erzählt von den Abgründen amerikanischer Mittelstandsfamilien, Kalifornien als Sehnsuchtsland und die Illusion darüber, einen Menschen und die Wahrheit zu kennen.
Pro und Kontra
+ spannungsgeladener Mystery mit sich kreuzenden Perspektiven und überraschender Schlussnote
+ differenzierte psychologisch ausgefeilte Figuren
+ tiefgründig und unterhaltsam
+ doppelbödiger Plot, doppeldeutige Sprache
Wertung:
Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5
Rezension zu Die Süßholzraspler
Rezension zu Liebe Mutter, es geht mir gut
Rezension zu Ein Fremder liegt in meinem Grab
Rezension zu Der Mord von Miranda
Rezension zu Letzter Auftritt von Rose