Diogenes 2008
Originaltitel: A Suspension of Mercy (England), The Story-Teller (USA) (1965)
Übersetzung von Matthias Jendis
Nachwort von Paul Ingendaay
Editorische Notiz von Anna von Planta
Taschenbuch, 384 Seiten
€ 10,90 [D] | € 11,30 [A] | CHF 17,90
ISBN 978-3-257-21421-5
Genre: Mystery, Thriller
Inhalt
Der amerikanische Schriftsteller Sydney Bartleby ist mit der Engländerin Alicia verheiratet und lebt mit ihr in einem einsam gelegenen Haus nahe Ipswich, Suffolk. Nach eineinhalb Jahren stecken die beiden in einer finanziellen Krise: Sydneys Fernsehstücke, die er mit seinem Londoner Koautor Alex Polk-Faraday schreibt, werden von den Sendern abgelehnt, sein Roman "Der Planer" findet keinen Verlag. Sydney und Alicia müssen ihren Lebensunterhalt vor allem mit den Schecks finanzieren, die Alicia monatlich von ihren betuchten Eltern bekommt. Zur Finanzkrise kommt die Ehekrise hinzu.
Sydney drücken die Ablehnungen aufs Gemüt und Alicia hat kein Verständnis für seine Launen. Als sie ihn vor ihren Partygästen, Alex, dessen Frau und der neuen Nachbarin, der alten Dame Mrs. Lilybanks, als Versager abkanzelt, kommt es zu einem heftigen Ehekrach, und Sydney schlägt seine Frau zum ersten Mal. In diesem Moment malt er sich aus, wie es wäre, Alicia so zu schlagen, daß sie stirbt. Alicia verreist mit unbekanntem Ziel in einen Urlaub von Sydney, kommt nicht zurück und wird vermisst. Sydney gerät unter Mordverdacht.
Rezension
Patricia Highsmiths Hauptfigur ist ein Erzähler, der die Grenzen zwischen seinen Geschichten und der Realität verwischt. Sydneys großer Wunschtraum ist es, Alicia zu ermorden und endlich ohne ihre Mäkeleien und mit ihrem Geld frei arbeiten zu können. Er weiß, wie er sie in die Enge und in den Tod treiben und Edward zum Alleinschuldigen stilisieren kann. Sydney ist ein kreativer Kopf mit viel - für die Normalwelt zuviel - Phantasie. Für seine Arbeit erfindet er Szenarien und Figuren, inspiriert von der Realität. Er konstruiert ein Scheindrama um Alicias Tod und will die dadurch gewonnenen Quasi-Erfahrungen und Gefühle für seine schriftstellerische Arbeit verwerten. Doch die Scheinwelt entgleitet ihm, es ereignen sich reale Todesfälle. Seine Nachbarin Mrs. Lilybanks beobachtet ihn bei fragwürdigen Handlungen, interpretiert diese und zieht daraus ihre Schlüsse.
Ob es sich bei den Todesfällen um Morde handelt, ist Highsmith gleichgültig, weil sie an anderen Dingen interessiert ist. Sydney imaginiert Gewalttaten, ihn beherrschen Mordgedanken, und so läuft er literarisch zu Hochform auf und erfindet eine Krimiserie mit einem autobiographisch gefärbten Gentleman-Gangster, den er "Schatten" nennt und der in einer Folge sogar den schrecklichen Freund einer Frau tötet. Auch seinen Roman "Der Planer", der von Menschen erzählt, die sich ein Lebensziel setzen und es durch Planung realisieren wollen, verbessert er, weil seine eigene Situation auf den Roman abfärbt. Sein Leben wird ebenfalls zu einer von ihm erzählten Geschichte. Eine Freundin zieht eine Parallele zum Theater, es sei wie auf der Bühne. Highsmith beschreibt sehr eindringlich den gefährlichen Balanceakt des Autors zwischen Fakt und Fiktion, Fakt werdender Dichtung und fiktionsgleicher Realität mit Schattierungen und Brechungen über mehreren Ebenen. Alles ist makellos durchkonstruiert und wirkt doch wie zufällig.
Der Geschichtenerzähler ist insoweit ein postmoderner Roman, als Realität und Fiktion durchgehend gespiegelt werden. Sydney ist ein amerikanischer Schriftsteller, der in Suffolk lebt, wie Highsmith während der Arbeit an ihrem Roman. Die Beschreibung des ländlichen Suffolk ist inspiriert durch Highsmiths zeitweiligen englischen Wohnort. Es gibt eine Vielzahl an Parallelen zu Romanen mit ihrer Hauptfigur Tom Ripley. Die Koautorenschaft im Roman geht zurück auf Highsmiths Kooperation mit Richard Ingham, einem Lehrer mit Ambitionen als Autor. Beide arbeiteten an "It’s a Deal", einer Serienidee für das Fernsehen, mit einer Arbeitsteilung, die der zwischen Sydney und Alex ähnelte. Am Ende des Romans gibt es noch eine kraftvolle metafiktionale Wendung.
Der Geschichtenerzähler wurde 1989 von Rainer Boldt nach einem Drehbuch von Dorothea Neukirchen für das Fernsehen verfilmt. Der Roman erschien 1967 bei Rowohlt unter dem Titel Mord mit zwei Durchschlägen und 1974 bei Diogenes unter seinem heutigen Titel, jeweils gekürzt, schließlich 1985 als vollständige Übersetzung von Anne Uhde. Die Neuübersetzung von Matthias Jendis ist ebenfalls vollständig.
Fazit
Patricia Highsmith erzählt in ihrem elften Roman, Der Geschichtenerzähler, vom Schriftsteller Sidney Bartleby, der des Mordes an seiner Frau beschuldigt wird, weil er seine Mordfantasie zu Papier gebracht hat. Sein Partner Alex versucht Kapital daraus zu schlagen. Highsmith entwickelt ein Spiegelkabinett, in dem Realität und Fiktion derart reflektiert werden, dass der Protagonist sie schließlich durcheinander bringen muss. Einer der interessantesten Aspekte des Romans ist der Zusammenhang von Schreiben und Verbrechen.
Pro und Kontra
+ eins der wichtigsten Bücher von Highsmith
+ beginnt als schwarze Komödie über einen vielleicht begangenen Mord
+ wunderbares Psychogramm einer gestörten Ehe
+ morbide Geschichte über seelische Abgründe
Wertung:
Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5
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