Interview mit James A. Sullivan
Literatopia: Hallo, James! Bisher kennt man Dich von Fantasyromanen wie „Die Elfen“ oder „Nuramon“ – mit „Chrysaor“ lieferst Du hingegen ein spannendes Weltraumabenteuer ab. Wie war es für Dich, Dich in die Weite des Universums zu wagen?
James Sullivan: Die Arbeit war für mich natürlich etwas ganz Besonderes, weil ich noch nie zuvor einen Science-Fiction-Roman geschrieben hatte. Vieles war mir als Leser der SF natürlich vertraut, und auch aus der Fantasy brachte ich einiges mit. Die Grundideen zu „Chrysaor“ trage ich schon seit den frühen 90ern mit mir herum. Sie haben sich über die Jahre immer wieder verändert und mir schließlich beim Schreiben ein merkwürdiges Gefühl der Vertrautheit gegeben. Dabei hätte ich mich beinahe gar nicht auf das Projekt eingelassen.
Anfang 2014, „Nuramon“ war gerade erschienen, wollte ich eigentlich an einem Fantasy-Roman weiterarbeiten, da hatte ich einen neuen Einfall zu „Chrysaor“, der im Grunde den Stoff vervollständigte. Ich schrieb in kürzester Zeit fast hundert Seiten an Material in mein Notizbuch und legte es dann aber zu Seite. Ich wollte das Fantasy-Projekt einfach nicht abbrechen, denn ich hatte schon viel Zeit investiert und kam eigentlich gut voran. Ein paar Monate später unterhielt ich mich dann mit meinem Literaturagenten, und wir kamen aufs Science-Fiction-Genre zu sprechen. Er fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, einen SF-Roman zu schreiben. Ich erzählte ihm sofort von „Chrysaor“, und er ermutigte mich, ein Exposé einzureichen. Ich ließ alles stehen und liegen und beschäftigte mich mit dem Stoff. Nach Jahren der Vorbereitung war jetzt offensichtlich die Zeit reif, den Roman endlich zu schreiben.
Im Herbst dann rief mich mein Agent von der Frankfurter Buchmesse an. Und wenn dein Agent dich von der Buchmesse anruft, weißt du als Schriftsteller sofort, dass es gute Nachrichten gibt. Der Piper Verlag war von meinem Exposé angetan und wollte „Chrysaor“ für die neue Science-Fiction-Reihe gewinnen. Die Leute bei Piper, allen voran Carsten Polzin, haben mich dann überaus freundlich aufgenommen und die Zusammenarbeit angenehm gestaltet.
Natürlich gab es beim Schreiben selbst immer wieder Herausforderungen, aber ich musste feststellen, dass die Jahre des langsamen Reifens den Stoff robust und vielschichtig gemacht hatten. Die Erfahrung dieses Romans lässt mich jetzt viel gelassener auf meine anderen Stoffe blicken. Ich habe jetzt im Grunde die Gewissheit, dass sich jedes Projekt die Zeit nimmt, die es braucht, und ich kein schlechtes Gewissen haben muss, wenn ein Langzeitprojekt mal nicht vorwärts kommt.
Literatopia: In „Chrysaor“ wird die Zukunft als „paradiesische Postapokalypse“ beschrieben – kannst Du das genauer erläutern?
James Sullivan: Das ist natürlich erst einmal eine Anspielung auf das typische Szenario: dass die Menschen nach einer beinahe vernichtenden Katastrophe um das kämpfen, was früher im Überfluss vorhanden war. Was wäre aber, wenn die Menschheit so weit fortgeschritten wäre, dass selbst eine Katastrophe, die im ersten Augenblick verheerend erscheint, zu einem Zustand führt, der immer noch meilenweit über dem liegt, was wir heute kennen? Es wäre Jammern auf hohem Niveau.
In „Chrysaor“ besteht die Katastrophe darin, dass die Künstlichen Intelligenzen der Menschheit den Rücken kehren. Die Menschheit befürchtet erst, dass nun alles zusammenbricht. Und tatsächlich müssen sie sich von vielem lieb Gewonnenen trennen. Aber automatisierte Fabriken produzieren auch ohne KI weiterhin alle möglichen Versorgungsmodule und sogar Raumschiffe. Und dennoch verhalten sich viele, als wäre alles verloren und eine Untergangsstimmung macht sich breit. Das ganze Zitat, in dem die Formulierung eingebettet ist, lautet: „Es hätte schlimmer kommen können. Es war nur die Vertreibung aus dem Paradies in eine paradiesische Post-Apokalypse.“ Der Spruch stammt von einer Politikerin, die die Dekadenz und zugleich die Hysterie jener Zeit anprangert. Denn all die Befürchtungen blieben aus, und die Menschen stellen schließlich fest, dass sie mit den Resten des Goldenen Zeitalters ganz gut leben können.
Literatopia: Welche Rolle haben die Künstlichen Intelligenzen bei der Entwicklung der Menschheit gespielt? Und warum sind sie verschwunden?
James Sullivan: Sie sind die Verkörperung der technologischen Singularität. Das heißt, die KIs können sich selbst modifizieren und dadurch erweitern und treiben ganz allgemein die wissenschaftliche Forschung voran. Das führt dazu, dass die erste Künstliche Intelligenz, während die Menschen damit beschäftigt sind, eine ihrer wissenschaftlichen Entdeckungen nachzuvollziehen, schon zehn neue vollendet. An diesem Punkt ist der Fortschritt für Menschen nicht mehr nachvollziehbar und sich danach auszurichten, wird sinnlos. Es geht also nicht mehr darum, das, was möglich ist, auch zu machen, sondern darum, sich zu fragen, was man eigentlich will.
Und es geht auch darum, die Dinge, die man in der Vergangenheit getan hat, noch einmal zu überprüfen. Zum Beispiel könnten sich die Menschen im Zuge der Singularität fragen, ob sie all das, was sie aus Angst aufgegeben haben, wieder zurückerlangen wollen? Privatsphäre wäre so ein Beispiel. Oder Freiheit ganz allgemein.
Das heißt, in meiner Zukunft hat die Menschheit den Fortschrittsglauben dadurch überwunden, dass sie ihm einfach nicht mehr folgen konnte und die KIs auf die Frage „Was ist möglich?“ so viel erwiderten wie: „Frag nicht, was möglich ist, sondern erkenne, was du willst.“ Und natürlich ist das eine Frage, die sich jeder von uns im Bezug auf Technologie oder auch ganz allgemein heute stellen kann.
Verschwunden sind die Künstlichen Intelligenzen in meinem Roman, weil die Menschen sie hintergangen haben. KIs können bei mir zwar nicht gegen Menschen Krieg führen, aber untereinander ist es ihnen durchaus möglich. Und es ist ihnen auch möglich, den Menschen die Mittel in die Hand zu geben, gegeneinander vorzugehen. In einem der sogenannten KI-Kriege kämpft die Erde gegen eine der Kolonien. Und die KI Eleonore tritt gegen die KI Hydra an. Die Erdregierung möchte einen weitreichenden Sieg erzwingen und greift zu einer unerhörten List: Sie manipuliert einige der Nanotech-Waffen und belässt ihre KI-Drohnen in dem Glauben, dass sie mit Waffen bestückt sind, die für Menschen ungefährlich sind und sich nur gegen Maschinen wenden. Die manipulierten Waffen zerstören nicht nur die KI Hydra, sondern geraten außer Kontrolle, und binnen weniger Tage verwandelt sich die Oberfläche des feindlichen Planeten in Asche.
Mit so einer extremen Wirkung hat die Erdregierung nicht gerechnet. Sie hat gehofft, dass sich der Effekt unterschwellig über einen längeren Zeitraum entfaltet. Als dann ihre KI Eleonore ankündigt, dass ihre Täuschung Folgen haben wird, fürchten natürlich alle, die KI könne sich nun über ihre Grundregeln hinwegsetzen und gegen Menschen vorgehen. Doch stattdessen stellt sich heraus, dass sie Kontakt zu allen anderen KI aufgenommen hat. Und zur Überraschung aller ziehen sie sich komplett von der Menschheit zurück. Sie verschwinden mit ihren Raumschiffen in den Tiefen des Alls, und die Menschheit bleibt allein zurück und muss mit den Resten der Technologie leben. Das Zeitalter der technischen Singularität ist damit beendet.
Literatopia: Wie sehen die Machtverhältnisse in „Chrysaor“ aus? Und wie ist es möglich, schnell zwischen den verschiedenen Sternensystemen zu reisen?
James Sullivan: Die menschlichen Kolonien in meinem Roman sind inzwischen fast alle von der Erde unabhängig. Es handelt sich bei ihnen überwiegend um Demokratien. Für den Roman zentral sind zwei Parteien: zum einen die Uranosier, deren Gesellschaft eher konservativ und militaristisch ist, und die Ketoniden, die von den Uranosiern seit gut zwanzig Jahren unterdrückt werden und um ihre Freiheit kämpfen. Was die Erdbewohner angeht, haben sie in dieser Zeit ihre Bedeutung weitgehend eingebüßt. Sie streben nach alter Größe und konkurrieren mit den Uranosiern, konnten sich aber bislang nicht gegen sie durchsetzen.
Möglich sind der Handel, die Reisen und die Konflikte zwischen den Planeten, die teilweise in unterschiedlichen Galaxien liegen, nur durch Sprungtore in den Hyperraum – also im Grunde durch Zugang zu einem Raum, der so mit dem Normalraum verbunden ist, dass man dort unter den richtigen Voraussetzungen einen kurzen Weg zurücklegt, und bei der Rückkehr in den Normalraum feststellt, dass man dort gewaltige Strecken überbrückt hat. Das heißt, die Antriebe der Raumschiffe selbst sind nicht besonders leistungsfähig. Die Tore aber verschlingen ungeheuer viel Energie, und das Etablieren eines Sprungtores ist mit einem gewaltigen Aufwand verbunden. Die Unternehmen, die die Portale konstruiert haben und eine Gebühr für jede Benutzung verlangen, sind die mächtigsten weit und breit, mächtiger noch als die meisten Regierungen. Und natürlich umranken sie unzählige Gerüchte und Verschwörungstheorien. Viele von ihnen tragen Wörter wie Monopol oder Kartell in ihren Firmennamen. Und in jener Zeit sind das keine schmutzigen Wörter.
Literatopia: Dein Protagonist Chris hat in seinem jungen Leben schon viele Fehler gemacht. Jetzt läuft es einigermaßen gut, aber dann wird er plötzlich gejagt – von wem und warum?
James Sullivan: Er befindet sich auf der Raumstation Ianthe-3 über dem Planeten Admeto und ahnt nichts Böses, als die Uranosier völlig unerwartet die Station angreifen. Angeführt werden sie von dem aufstrebenden Offizier Rayol Oredson, der seine Macht maßlos überschätzt. Es sollte ein Angriff werden, der den Feind zur Kapitulation zwingt und ihm Chris ausliefert. Am Ende aber wird die Station wegen Rayols Überheblichkeit zerstört, und Chris schlüpft ihm durch die Finger.
Der Grund für das Interesse der Uranosier an Chris liegt in dessen Herkunft. Chris ist ein Findelkind. Eine Frau hat ihn als Baby auf Ianthe-3 ausgesetzt, um ihn in Sicherheit zu wissen. Doch irgendetwas ist nun geschehen, dass die Uranosier die Spur von Chris aufnehmen konnten. Chris erfährt, dass die Uranosier ihn im Zusammenhang mit dem Konflikt im Keto-System haben wollen. Er vermutet bald, dass man ihn als Druckmittel gegen seine Familie verwenden will. Er hat keine Ahnung, dass sich noch weit mehr hinter dem Interesse verbirgt.
Literatopia: Wie würdest Du Chris kurz und knapp beschreiben?
James Sullivan: Ein junger Mann, der als Kind für teilweise erwachsen erklärt wurde, sich dann beinahe ruiniert hat, inzwischen aber gelernt hat, an seinen Aufgaben zu wachsen.
Literatopia: Chris tut sich mit dem Piraten Valmas zusammen, der mit allen Wassern gewaschen ist, aber sich zumindest Chris gegenüber aufrichtig verhält. Wie ist Valmas zum Piraten geworden?
James Sullivan: Das hat mit dem Saturnmond Titan zu tun. In meinem Roman ist das trotz der kargen Oberfläche eine Art Sehnsuchtsort, der in allen Erzählformen dieser fiktiven Zukunft, vor allem aber in Piratenfilmen, glorifiziert wird. In jungen Jahren kam Valmas auf den Titan, um sein Glück zu machen und schlitterte langsam aber sicher in das Geschäft von Schmugglern und Piraten. Seine Freiheit kann er sich weitgehend bewahren, wenngleich es natürlich Mächte gibt, die ihn und sein Schiff für sich gewinnen wollen.
Literatopia: Warum hilft Valmas Chris?
James Sullivan: Ich könnte sagen: Er mag Chris einfach. Und das wäre nicht mal gelogen. Aber ich würde damit verschweigen, dass er auch andere Gründe hat, Chris beizustehen. Die aber werden erst im Laufe des Romans aufgedeckt.
Literatopia: Was hat es mit dem mysteriösen Planeten Chrysaor auf sich?
James Sullivan: Das ist einer der wichtigsten Planeten im Keto-System und erlangt Bedeutung, als dort vor mehr als zwanzig Jahren (vor dem Beginn der Romanhandlung) die Überreste einer außerirdischen Kultur entdeckt werden – eine ganze Stadt unter der Erde, voller fremder Maschinen. Viele erhoffen sich nun, dass man eine Art zweite Singularität erreichen könnte. Die Entdeckung weckt aber über das Keto-System hinaus Begehrlichkeiten, insbesondere bei den Uranosiern. Diese starten eine Invasion und besetzen die fremde Anlage und die Städte des Planeten. Natürlich leisten die Ketoniden Widerstand. Aber der Konflikt dauert bereits zwanzig Jahre, und die Uranosier machen beim Enträtseln der Maschinen kaum Fortschritte – zumindest keine, die sichtbar werden. Natürlich geht es im Roman darum, das Geheimnis um die Anlage auf Chrysaor zu entschlüsseln. Und Chris spielt dabei eine zentrale Rolle.
Literatopia: Du hast gemeinsam mit Bernhard Hennen den Bestseller „Die Elfen“ geschrieben, doch viele wissen das gar nicht, da Du zum Beispiel nicht auf dem Cover stehst. Wie sah Deine Zusammenarbeit mit Bernhard aus?
James Sullivan: Zuerst einmal hat Bernhard mir einen gehörigen Schock versetzt. Ich steckte 2003 nämlich mitten in meinen Magisterprüfungen und bereitete mich gerade auf die Klausuren vor, als Bernhard mich anrief und fragte, ob ich mit ihm einen Roman über Elfen schreiben wolle. Der Heyne Verlag sei interessiert und es sei eine gute Gelegenheit für eine Zusammenarbeit. Natürlich passte dieser Vorschlag wenige Wochen vor meinen Klausuren überhaupt nicht in meinen Plan. Ich war mit dieser Frage überfordert und bat Bernhard, mich doch später noch mal anzurufen. Mir war eines klar: Mit dem möglichen Scheitern zu leben ist eine Sache, aber sich ein ganzes Leben lang zu fragen „Was wäre wohl gewesen, hätte ich damals doch nur ja gesagt und mit Bernhard diesen Roman geschrieben“ – das war eine Vorstellung, die mir nicht gefiel.
Als Bernhard mich noch einmal anrief, faselte ich irgendetwas von Frau Aventiure, der man gehorchen muss, wenn sie dich zu einem Abenteuer ruft. (Ich hatte definitiv zu viel Wolfram von Eschenbach gelesen.) Und dann ging es los: Bernhard und ich spielten uns Ideen hin und her. Es gab zwar damals bereits ein Exposé, aber das war so radikal, dass der Verlag nicht glücklich damit war, und ich war es auch nicht. Wir überlegten, das Exposé abzuwandeln, hatten aber inzwischen so viele andere Ideen, dass es leichter war, uns etwas ganz neues auszudenken, als mit dem bereits bestehenden weiterzuarbeiten. Und so sprachen wir ein paar Tage am Telefon und spielten uns die Bälle hin und her. Wir griffen auch Ideen auf, die wir für andere Projekte gehabt hatten. Zum Beispiel wollte Bernhard einen Nordmann mit den Elfen in Kontakt bringen, und ich brachte Dinge wie die Dreiecksbeziehung und das Bild einer in ihrer eigenen, kleinen Welt gefangenen Elfe mit.
Eine der ersten Sachen, die wir festlegten, war, wer welche Figuren übernahm. Keine der Figuren hatte an dem Punkt einen Namen, aber es war klar, dass Bernhard den Nordmann übernehmen wollte (Mandred). Und ich wollte den Underdog übernehmen (Nuramon). Bernhard würde sich dann um dessen Nebenbuhler kümmern (Farodin), und ich würde die Perspektive der gemeinsamen Geliebten der beiden übernehmen (Noroelle). Damit waren die Figuren aufgeteilt. Und ich glaube, wir haben auch sofort festgelegt, dass der Underdog am Ende des Romans nicht als Gewinner vom Platz geht. Das alles stand von Anfang an fest.
Wir arbeiteten dann ein paar Tage lang getrennt voneinander an der Idee und trafen uns dann aber bei Bernhard, um an seinem Computer Satz für Satz ein gemeinsames Exposé zu verfassen. Ein paar Tage später hatten wir eine Zusage vom Heyne Verlag. Die Vertragsverhandlungen dauerten zwar noch Monate an, aber wir waren natürlich zufrieden. Es gab vom Verlag nur eine Bitte: Sie fragten, ob wir aus dem Elfenkönig eine Elfenkönigin machen könnten. Das heißt, im ursprünglichen Exposé hatten wir tatsächlich einen Elfenkönig vorgesehen. Emerelle, die im fertigen Roman als die Elfenkönigin auftritt, war damals lediglich als Nebenfigur vorgesehen, die den Hauptfiguren zur Seite steht und insgeheim hilft. Sie war nicht einmal in dem Exposé erwähnt, das wir dem Verlag vorgelegt hatten. Bernhard und ich sprachen darüber und spielten mit zahlreichen Ideen. Schließlich beförderten wir Emerelle zur Königin. Und so wurde aus einer kleinen Bitte des Verlages der Grundstein für eine der spannendsten Figuren der Elfenreihe.
Die eigentliche Arbeit am Roman lief so ab, dass wir einen groben Szenenplan erstellten und jeder die Szenen schrieb, die aus der Sicht der eigenen Figuren erzählt werden sollten. So arbeiteten wir uns langsam voran. Wir schickten uns die Kapitel hin und her, lektorieren sie gegenseitig und trafen uns regelmäßig, um Zeile für Zeile am Computer durchzugehen. Auch wenn es eine extrem anstrengende Zeit war, waren wir mit dem Ergebnis glücklich. Als wir fertig waren und ich das Buch in Händen hielt und von vorne bis hinten gelesen hatte, konnte ich nicht fassen, was wir da gemeinsam geschaffen hatten. Ich bekomme heute noch eine Gänsehaut, wenn ich zum Beispiel die Szene lese, in der Nuramon mit Emerelle über ihre gemeinsame Vergangenheit in Ischemon spricht, oder wenn Obilee Nuramon gehen lässt, weil sie von Emerelle weiß, dass Nuramons Zukunft in der Welt der Menschen liegt. Aber am meisten berührt mich das Ende des Romans. Denn drei kleine Fragmente von mir aus dieser Szene sind das Erste, das überhaupt von „Die Elfen“ geschrieben wurde. Das war im Grunde das Ziel, auf das wir hingeschrieben haben.
Was nun meine Abschlussprüfungen angeht, litten diese überhaupt nicht unter meiner Arbeit am Roman. Im Gegenteil: Es hätte kaum besser laufen können.
Literatopia: Finden sich in Dir und Bernhard Hennen Eure Charaktere Nuramon und Farodin wieder?
James Sullivan: In jeder Figur findet man sicher etwas von dem jeweiligen Schöpfer. Das darf man jedoch natürlich nicht überstrapazieren. Aber viele Gefühle und Erfahrungen, die ich hatte, finden sich in Nuramon wieder. Fremdheitsgefühle zum Beispiel oder das Gefühl, vertraute Dinge zum ersten Mal zu betrachten. Aber ich könnte jetzt auch auf Noroelle oder Yulivee verweisen und Details nennen, die sie mit mir gemeinsam haben. Sagen wir mal so: Wenn diese Parallele besteht, dann bitte auch für die anderen Figuren. Dann finden Bernhard und ich uns auch in Mandred und Noroelle, in Skanga und Thorwis, in Ollowain und Obilee und in all den anderen wieder.
Literatopia: 2013 hast Du Nuramon eine eigene Geschichte gewidmet. Wie geht es mit ihm nach dem Ende von „Die Elfen“ weiter?
James Sullivan: Das Ende von „Die Elfen“ war für Nuramon natürlich bitter. Er ist als letztes Albenkind allein in der Menschenwelt gestrandet. Noch ist er verwirrt, weil er die Erinnerung an seine früheren Inkarnationen zurückerhalten hat, diese aber in weiten Teilen verworren sind. Er verbringt die nächsten Jahrzehnte damit, den fremden Kontinent, den er am Ende von „Die Elfen“ betritt, zu durchwandern und seine Erinnerungen zu ordnen. Erst dann nähert er sich wieder den Menschen an. Er wohnt als Einsiedler in der Nähe der kleinen Stadt Teredyr und hilft gelegentlich mit seinen Heilkräften aus. Mit der Zeit wachsen ihm die Menschen ans Herz. Er erinnert sich an damals, als er fünfzig Jahre in Firnstayn unter Menschen gelebt hat, weil er auf Mandred und Farodin wartete. Doch mit den Konflikten der Menschen möchte er diesmal nichts zu tun haben.
Als Teredyr aber von einem expandierenden Königreich angegriffen wird, erklärt sich Nuramon bereit, den Teredyrern mit seinen Fähigkeiten zur Seite zu stehen. Das Gefühl, Teil von etwas zu sein, bringt ihn zu dem Entschluss, sein Schicksal endlich wieder in die Hand zu nehmen und den Wegen, die sich ihm bieten, zu folgen – ganz egal, wo sie hinführen und welche Gefahren dort lauern. Er will sein Leben nicht mehr von der Sehnsucht nach Vergangenem und Verlorenem bestimmten lassen, sondern aktiv werden. Und dann geschieht das, was er nicht mehr für möglich gehalten hat: Er findet Freunde, und er verliebt sich in die Grafentochter Daoramu und gewinnt Ansehen. Aber er muss mit den Erwartungen, die man wegen seiner magischen Kräfte an ihn stellt, umgehen und mit all den Verpflichtungen fertig werden – und damit, dass er sich Feinde gemacht hat, die ihn tot sehen wollen.
Der Roman beschäftigt sich natürlich auch mit weiteren Fragen, die sich aus dem Ende von „Die Elfen“ ergeben: Was ist aus den Tjuredanbetern auf dem anderen Kontinent geworden? Welche Auswirkungen hat es auf das magische Gefüge, dass Emerelle und die anderen Zauberer die Verbindungen zwischen Albenmark und der Welt der Menschen getrennt haben? Und natürlich ist die Grundfrage des Romans: Wird Nuramon den Weg ins Mondlicht, ins elfische Jenseits, finden?
Literatopia: Wer den Klappentext von „Der letzte Steinmagier“ liest, dem fallen sofort die asiatischen Namen auf. Welchem Abenteuer muss sich Wurishi Yu stellen?
James Sullivan: Yu ist der Letzte der Steinmagier. Die anderen sind bei einer gewaltigen Schlacht umgekommen. Das Problem ist, dass die Kaiserin einst von einem Steinmagier verzaubert wurde. Er ließ sie zu Stein erstarren. Und nur ein Steinmagier kann den Zauber wieder rückgängig machen. Daran haben sich etliche versucht, aber es ist bisher niemandem gelungen, weil die Hauptstadt ein gefährlicher Ort ist. Eine Armee aus belebten Statuen, die früher eine Streitmacht der Kaiserin bildeten, greift so gut wie jeden an, der sich der Stadt nähert. Und nun ist Yu der Einzige, der die Kaiserin noch retten kann, und mit dieser Aufgabe fühlt er sich überfordert. Er möchte sich diesen und anderen Zwängen und Gefahren entziehen. Und es dauert eine Weile, bis er erkennt, dass er im Grunde auf die Aufgabe vorbereitet ist.
Ich liebe den Roman, weil ich mich damals viel mit archetypischen Bildern auseinandergesetzt habe und mit der Frage, wie viel Stimulanz wir als Leser brauchen, um ein konkretes Bild zu konstruieren. Ich habe mich immer gefragt, warum bei Märchen und Sagen trotz der erschreckenden Vagheit, mit denen sie oft operieren, die Bilder, die im Kopf entstehen, so mächtig sind und so detailliert sein können. Und meine Antwort war: Weil sie ständig auf Dinge verweisen, die wir in unserem kulturellen Gedächtnis zu entschlüsseln gewohnt sind. Ich könnte einen Wald in allen möglichen Details beschreiben und würde damit nur einen Hauch dessen erreichen, was geschieht, wenn ich die Leser mit einer Anspielung an den Sherwood Forest erinnere, oder an den Wald in Hänsel und Gretel. Mit solchen Dingen spiele ich in dem Roman.
Literatopia: Wurde die Geschichte von der legendären Terrakotta-Armee inspiriert?
James Sullivan: Ja, das ist richtig. Ich bin von der Terrakotta-Armee fasziniert. Und ich stellte mir vor, was wäre, wenn zu jeder der Figuren ein Mensch lebte und wenn zwischen Mensch und Figur ein magisches Band geknüpft wäre. Und so kam ich auf die Idee der Steinmagie. In der Erzählwelt gibt es Magier, die Zauber auf das Element Stein legen können. Sie können die Seele eines Menschen mit einer magischen Statue verknüpfen. Solange die Statue besteht, ist der Mensch beinahe unsterblich. Seine Wunden heilen, Krankheiten können sich nicht festsetzen, und nur das stärkste Gift und die extremste Gewalt können ihn töten. Das Problem ist aber, dass man sofort stirbt, wenn die Statue zerstört wird. Deswegen verbergen die meisten ihre Statuen und haben natürlich auch die Sorge, dass diese während ihrer Abwesenheit zerstört wird. Wir tragen unser Leben mit uns herum, das ihre ist jedoch nach dem Zauber an einen Gegenstand gebunden. Auf dieser Grundvorstellung basiert der Roman. Und natürlich ergeben sich daraus etliche Möglichkeiten für spannende Abenteuer.
Literatopia: Wann und warum hast Du eigentlich mit dem Schreiben angefangen? Und worum ging es in Deiner ersten Geschichte?
James Sullivan: Wie so viele, habe ich in den 80ern und 90ern Pen&Paper-Rollenspiele gespielt und bin recht schnell zu selbstgeschriebenen Abenteuern übergegangen und habe für manche davon Erzählfragmente zur Vorbereitung geschrieben. Ein Abenteuer kam bei den Spielern so gut an, dass ich anfing richtige Erzählungen dazu zu schreiben. Von da aus entwickelte es sich dann weiter.
An meine frühesten Sachen erinnere ich mich nur vage. Sie existieren nicht mehr. Aber die erste richtige Geschichte, an die ich mich erinnern kann (weil ich sie noch besitze), war eine Vampirerzählung, die in einer klassischen Fantasy-Welt spielt. Sie basiert auf einem Stoff, der mich heute noch gelegentlich beschäftigt, auch wenn ich nun handwerklich ganz anders an die Sache herangehen würde.
Literatopia: Was liest Du persönlich gerne? Und gibt es Autoren, die Deine Art zu Schreiben geprägt haben?
James Sullivan: Meine Liebe gilt natürlich erst einmal dem Genre. Ich lese am meisten Fantasy & Science Fiction, schaue mich aber auch darüber hinaus um. Ich habe eine ungeheure Schwäche für die Literatur des Mittelalters und für die Science Fiction der 1960er und 1970er Jahre. Im Augenblick lese ich wieder mal „High Rise“ von J. G. Ballard. Es gibt eine Verfilmung, und das nehme ich zum Anlass, mir den Klassiker noch einmal zu Gemüte zu führen.
Prägend für das Schreiben waren bei mir viele Autoren. Es ist für Schriftsteller extrem schwer, den eigenen Stil einzuschätzen. Aber ich kann zumindest die Autoren nennen, deren Werk mich stark beeinflusst hat: J. R. R. Tolkien, Alexandre Dumas, Lord Dunsany, Wolfram von Eschenbach, Alfred Bester, Ursula K. LeGuin, John Brunner, Roger Zelazny, Samuel R. Delany und Joanna Russ. Die Liste ließe sich leicht fortsetzen.
Literatopia: Wie stehst Du zum Thema eBooks? Hast Du einen Reader mit hunderten Büchern drauf? Oder hast Du sie lieber im Regal stehen?
James Sullivan: Ich finde eBooks großartig. Und inzwischen haben sich bei mir etliche angesammelt. Teilweise kaufe ich meine Lieblingsbücher zusätzlich als eBook, weil ich sie immer bei mir haben möchte. Da meine Frau und ich an ständigem Regalplatzmangel leiden (Bibliothekarin + Schriftsteller in einem Haushalt führt zur Bücherexplosion), müssen wir uns überlegen, was wir uns in gedruckter Form kaufen. Also geben wir Büchern oft erst einmal per eBook eine Chance, und wenn wir uns in einen Text verlieben, kaufen wir dann eine nette Ausgabe zum erneuten Lesen. Ich weiß, das klingt verrückt, aber wenn der Platz wirklich knapp wird, ist man zu fast allem bereit.
Was mich an der Diskussion um eBooks stört, ist die Hitze, in der sie geführt wird. Niemand muss sich entweder nur für das eine oder nur für das andere entscheiden. Ein wenig Gelassenheit würde wahrscheinlich helfen.
Literatopia: Du hast Anglistik, Germanistik und Sprachwissenschaft studiert, unter anderem mit dem Schwerpunkt „Artusepik“ – was ist das? Und inwiefern hat Dein Studium Deinen Schreibstil geprägt?
James Sullivan: Das ist der Themenbereich in der Erzählliteratur, der sich mit König Artus befasst. Als Vorläufer der heutigen Fantasyliteratur ist der Artusstoff für mich natürlich extrem interessant. Und gerade auf Deutsch gibt es mit dem „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach ein echtes Meisterwerk.
Das Studium hat mich natürlich geprägt, aber eher indirekt. Der Einblick in die Literaturwissenschaft und die Linguistik öffnet einfach den Blick für Dinge, über die man sich sonst keine Gedanken macht. Nehmen wir zum Beispiel das „Nibelungenlied“. Ich erinnere mich heute noch an eine Vorlesung, die ich in Köln bei Professor Bumke besucht habe. Da habe ich mehr über szenisches Erzählen gelernt als irgendwo sonst. Ich kannte das Nibelungenlied, aber durch die Literaturwissenschaft wurde ich auf Dinge aufmerksam, die ich früher nicht beachtet bzw. nicht erfasst habe.
Literatopia: Kannst Du uns schon etwas über zukünftige Veröffentlichungen verraten?
James Sullivan: Da ich während des Schreibens von „Chrysaor“ eine weitere Idee für einen Science-Fiction-Roman hatte, und der Piper Verlag mehr Science Fiction von mir haben will, wird es (voraussichtlich nächstes Jahr) einen weiteren Roman von mir geben. Details möchte ich jetzt aber noch nicht verraten.
Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview, James!
James Sullivan: Gern geschehen. Es war mir ein Vergnügen.
Autorenfoto: Copyright by James A. Sullivan
Autorenhomepage: www.jamessullivan.de
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Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.