Klett Cotta (März 2016)
Hardcover mit Schutzumschlag
Aus dem Englischen übersetzt von Wieland Freund und Andrea Wandel
378 Seiten, 19,95 EUR
ISBN: 978-3-608-96137-9
Genre: Surrealismus / Mystery
Klappentext
Night Vale, ein Städtchen in der Wüste. Irgendwo in der Weite des amerikanischen Südwestens. Geister, Engel, Aliens oder ein Haus, das nachdenkt, gehören hier zum Alltag. Night Vale ist völlig anders als alle anderen Städte, die Sie kennen – und doch seltsam vertraut.
Rezension
”Die meisten Leute gehen nicht weg von hier. Die meisten Leute kommen und dann bleiben sie und bleiben und bleiben. Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon hier bin. Die Zeit und all das funktioniert hier nicht. In jedem Fall nicht lang genug. Ich bin nicht lang genug geblieben.“ (Seite 101)
Im Wüstenstädtchen Night Vale ist das Absurde normal und das Normale gefährlich. Ein Haus macht sich Gedanken, Lichter leuchten über der Wüste und die Bedienung im Moonlite All-Nite fegt mit ihren Ästen Geschirr von der Theke. Bibliothekare sind grausige Wesen, die unschuldige Leser überfallen und töten, und die Moderatoren im Fernsehen sprechen mit den Einwohnern – direkt durch den Bildschirm des Fernsehers. Die Existenz von Engeln ist illegal, trotzdem gibt es sie und alle heißen Erika. Und das sind nur wenige einer ganzen Reihe von Absurditäten, die den Alltag in Night Vale bestimmen. Doch eines Tages ereignen sich wirklich seltsame Dinge, die das Leben von zwei Frauen auf den Kopf stellen.
Jackie erhält in ihrem Pfandhaus Besuch von einem Mann im hellbraunen Jacket, der ihr einen Zettel gibt, auf dem „KING CITY“ steht. Soweit nichts Ungewöhnliches, die Leute in Night Vale hinterlassen bei Jackie alles Mögliches als Pfand: Plastikflamingos, Autos, Tränen. Also nimmt Jackie den Zettel und stellt eine Quittung aus, doch dann fällt ihr auf, dass sie sich nicht an den Namen des Mannes erinnern kann und auch nicht daran, wie er aussah. Doch seinen Zettel wird sie nicht mehr los. Sie legt das Papier zur Seite, es ist wieder in ihrer Hand. Sie zerschneidet es, es ist wieder in ihrer Hand. Sie verbrennt es – und es ist wieder in ihrer Hand.
Jackie will der Sache auf den Grund gehen und bemerkt, dass Diane Crayton den gleichen Spuren wie folgt wie sie. Diane hat einen Sohn im Teenageralter, der ständig seine Gestalt ändert. Mal ist er ein Tier, mal ein außerirdisch anmutendes Wesen und manchmal sogar eine Blumenvase. Doch ganz gleich, wie er aussieht, Diane erkennt ihren Sohn Josh immer. Soweit alles normal – bis Josh wissen will, wer sein Vater ist und ihn sucht. Dabei hat Diane gerade ganz andere Sorgen, denn im Büro kann sich niemand außer sie an ihren Kollegen Evan erinnern, dabei hat er doch in der Firma gearbeitet, oder nicht? Das mit der Zeit ist so eine Sache in Night Vale, aber dass die Menschen ihre Erinnerungen verlieren, ist reichlich seltsam.
“Es wäre verrückt anzunehmen, das Haus habe eine Persönlichkeit, eine Seele. Warum sollte das jemand annehmen? Aber es ist wahr. Das Haus hat eine Persönlichkeit, eine Seele. Aber es war verrückt, das anzunehmen. Tun Sie so was niemals.“ (Seite 17)
Auf den ersten hundert Seiten wirkt „Willkommen in Night Vale“ wie eine sinnlose Aneinanderreihung von Skurrilitäten, die sich zwar witzig lesen, aber auch nicht übermäßig Spannung erzeugen. Hat man die Seltsamkeiten erst einmal hingenommen, erkennt man nach und nach Zusammenhänge und der Roman wird plötzlich interessant, vor allem im Hinblick auf King City. Jackie und Diane reagieren mit Verstörung und Verzweiflung, aber auch mit Neugier und Mut. Die beiden Frauen spüren, dass mit ihrer kuriosen Welt etwas nicht stimmt, ebenso wie der Leser, der die normalen Verrückten Night Vales von den abnormalen Seltsamkeiten gut unterscheiden kann. Nach anfänglicher Skepsis entwickelt sich die Geschichte zu einer gut durchdachten Suche nach Antworten, die mit jeder Seite spannender wird.
Zwischen all den Übertreibungen und Verzerrungen erkennt man bald, dass die Leute in Night Vale eigentlich ganz normale, menschliche Probleme haben. Diane muss einen Teenager allein großziehen und Joshs ständige Verwandlungen erscheinen wie eine Metapher für die Wankelmütigkeit der Jugend. Jackie hingegen ist schon ewig neunzehn Jahre alt, weil sie nicht zwanzig werden will. Und da die Zeit in Night Vale anders funktioniert, bleibt sie tatsächlich für viele Jahre neunzehn. So viele, dass sie gar nicht mehr weiß, wie alt sie ist. Viele Bilder in diesem Roman haben eine tiefere Bedeutung, viele sind aber auch einfach nur kurioses Beiwerk für eine Geschichte, die sich wie eine Psychose liest und zwar in der Phase, in der man merkt, dass die empfundene Realität nicht die wirkliche ist.
Anfangs stört man sich etwas an der Nutzung von Wiederholungen und widersprüchlichen Aussagen als Stilmittel. Das liest sich einfach holprig, zumindest bis man sich daran gewöhnt (wobei sich der Roman in englischer Sprache deutlich besser liest). Die Dialoge wirken auf den ersten Blick gekünstelt, sind im Rahmen des Romans jedoch authentisch. Viele Gespräche kommen rüber, als würden die Leute einfach sagen, was sie denken, ohne Rücksicht darauf, ob ihre Reaktionen angemessen sind - und manchmal kommt plötzlich ein philosophischer Satz wie: „Ich weiß nicht, wer ich bin, und ich verstehe nicht, welche Auswirkungen das Verstreichen der Zeit auf mich hat.“ (Seite 239) … und das Gespräch geht einfach weiter.
Übrigens ist „Willkommen in Night Vale“ aus dem gleichnamigen Podcast entstanden, wobei man diesen nicht kennen muss, um sich in diesem Buch verlieren zu können. Allerdings kann man sich den Inhalt sehr gut abschnittsweise vorgelesen vorstellen. Klett-Cotta hat den Roman als schickes Hardcover herausgegeben, das von gewohnt hervorragender Qualität ist.
Fazit
„Willkommen in Night Vale“ folgt der surrealen Logik eines Traums, wo das Absurde als normal erlebt wird. Doch ganz gleich, wie merkwürdig einem dieses Buch erscheint, irgendwann ertappt man sich dabei, die verschobene Wirklichkeit von Night Vale als normal zu akzeptieren und die Ereignisse um das mysteriöse King City als beunruhigend zu empfinden. Joseph Fink und Jeffrey Cranor ist es wunderbar gelungen, aus einer schieren Masse an verrückten Ideen eine stimmige und unterhaltsame Geschichte zu spinnen, die anfangs verwirrt, aber mit jeder Seite mehr begeistert.
Pro und Contra
+ das Verrückte ist in Night Vale Alltag
+ surreale Atmosphäre wie in einem Traum
+ gut vernetzte, stimmige Story
+ facettenreiche Charaktere
+ viele skurrile Ideen
+ ganz normale, menschliche Probleme
+ schönes Hardcover
- Wiederholungen als Stilmittel lesen sich anfangs holprig
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5