Der Zirkus der Stille (Peter Goldammer)

der zirkus der stille

Atlantik (April 2016)
Hardcover mit Schutzumschlag
256 Seiten, 20,00 EUR
ISBN: 978-3-455-60043-8

Genre: Belletristik mit phantastischen Anklängen


Klappentext

Thaïs Leblanc wächst nach dem Tod der Mutter bei ihrer Großmutter auf, der unvergleichlichen Victoria, wie sie auf Zirkusplakaten tituliert wird. Thaïs verabscheut das Zirkusleben und zieht, kaum volljährig, nach Paris; sie will nur eins: Normalität. Doch als die Großmutter stirbt, konfrontiert deren seltsames Testament sie mit ihrer Familiengeschichte, die sie zum wundersamen Cirque perdu und seinem Direktor Papó bringt. Dort lernt Thaïs, dass man sich seinen Ängsten stellen muss und für die wichtigsten Dinge im Leben keinen Applaus von anderen braucht..


Rezension

“Dein Verstand gibt den Dingen ihren Namen. Dein Verstand dreht sich alles so, wie es ihm nutzt. Der Verstand sollte uns dienen, aber er ist gerissen, er trichtert uns ein, ihm bedingungslos zu folgen. Aber das ist nur gut für ihn, nicht für dich.“ (Seite 228)

Thaïs Leblanc hat ein gespaltenes Verhältnis zu ihrer Großmutter, der unvergleichlichen Victoria, die für den Zirkus lebte und schon immer viel zu viel Alkohol trank. Mit der glitzernden Scheinwelt des Zirkus hat die erwachsene Thaïs gebrochen und sich in Paris ein normales Leben aufgebaut. Doch als ihre Großmutter stirbt, wird Thaïs mit ihrem Testament konfrontiert – das Victoria sich auf die Brust geschrieben hat! Darin wünscht sie, dass Thaïs eine Hälfte ihres Hauses erbt und der Zirkusdirektor Papó die andere Hälfte. Voller Unbehagen wartet Thaïs auf den geheimnisvollen Cirque perdu, der nur aus wenigen Wagen und drei Personen besteht – und der auf wundersame Weise mit ihrem Leben verbunden scheint.

“Der Zirkus der Stille“ konzentriert sich ganz auf seine Protagonistin Thaïs, die als Zirkuskind aufgewachsen ist. Trotz vieler schlechter Erinnerungen gehört ein Teil ihres Herzens immer dem Zirkus, auch wenn sie es nicht wahrhaben will. Als sie im Haus ihrer verstorbenen Großmutter lebt, um die Beerdigung und den Nachlass zu regeln, beginnt Thaïs sich zu verändern und ihr zweites Ich wieder zu entdecken. Plötzlich denkt sie darüber nach, dass sie mit ihrem Leben in Paris eigentlich gar nicht zufrieden ist und dass zwischen ihr und ihrem Freund längst ein Riss klafft, der das Ende ihrer Beziehung bedeutet.

Doch wie das Leben so spielt, ist Veränderung nicht nur schlecht, sondern auch gut. Thaïs wird von einer Freundin ihrer Großmutter umsorgt und in die kleine Familie des Cirque perdu aufgenommen. Allerdings nicht, ohne beweisen zu müssen, dass sie wirklich dazugehören will. Die Reise entpuppt sich bald als Reise zu ihr selbst, einer jungen Frau, die ohne Eltern aufgewachsen ist und entsprechend ohne die Identität, die eigentlich ein Teil von ihr ist. Der Cirque perdu ist nämlich ein kleiner Zigeunerzirkus und Thaïs gehört ebenfalls zum fahrenden Volk, was sie jedoch erst noch begreifen muss.

“Das Leben ist eine Wendeltreppe, und die Zirkusleute stehen nun mal ganz unten, und bei den Zirkusleuten sind wir Zeltbauer ganz unten. Darunter gibt’s nichts mehr. Nur die Zigeuner.“ (Seite 151)

Nebenbei widmet sich Peter Goldammer der Ablehnung, die den Sinti und Roma auch heute noch entgegengebracht wird, und den familiären Strukturen in den Zirkuskreisen. In „Der Zirkus der Stille“ sind die Zigeuner ein gleichermaßen fröhliches wie melancholisches kleines Volk, zuweilen auch anstrengend und aufdringlich, zumindest für die, die das Fremde nicht mögen. Sie feiern das Leben und lassen die Beerdigung von Thaïs‘ Großmutter zu einem merkwürdigen Fest werden, das den normalen Bürgern die Röte ins Gesicht treibt, vor Wut und Scham.

Thaïs folgt letztlich ihrem Herzen und stellt sich ihren Ängsten, ihrer Abneigung gegen den Zirkus und damit ihrer Vergangenheit. Sie begreift nach und nach, dass sie sich nicht in eine Rolle zwängen muss und dass das normale Leben nicht zu ihr passt. Dabei muss sie lernen, dass zu sich selbst zu stehen auch Opfer erfordert und dass es einiges an Überwindung kostet, sie selbst zu sein. Am Ende präsentiert Peter Goldammer einen sehr schönen, magischen Moment, den er leider nicht gänzlich ausreizt.

Überhaupt ist der Roman recht kurz geraten und man hat das Gefühl, an der einen oder anderen Stelle fehle etwas Wichtiges. Insbesondere die letzten Kapitel lesen sich, als hätte der Autor fertig werden müssen und so manche Beziehung wird nicht näher vertieft. Dabei gibt es in diesem Buch wunderbare und starke Nebencharaktere, die allerdings überwiegend nicht den Auftritt spendiert bekommen, den sie verdient hätten. Das schmale Hardcover ist zudem vergleichsweise hochpreisig, was den einen oder anderen Käufer bei einem Debütroman abschrecken könnte. Doch zugreifen lohnt sich!


Fazit

“Der Zirkus der Stille“ ist eine wundersame Geschichte über die Reise zu sich selbst. Thaïs wünscht sich ein normales Leben, das jedoch nicht ihre Bestimmung ist. Denn in ihrem Herzen ist sie ein Zirkuskind, das den Weg nach Hause und zu sich selbst sucht. Peter Goldammer schildert ihren Weg einfühlsam und mit viel Liebe für das Leben und das Fremde, das die Menschen ängstigt und verzaubert.


Pro und Contra

+ sympathische Protagonistin, die ihrem Herzen folgt
+ der geheimnisvolle Cirque perdu
+ skurrile und liebenswerte Nebencharaktere
+ Liebeserklärung an das Fremde
+ schönes, kleines Hardcover

- leider recht kurz geraten

Wertung: sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 3/5


Interview mit Peter Goldammer (2016)

Tags: Zirkus