London – Ein Uralte-Metropole-Roman (Christoph Marzi)

Heyne (Oktober 2016))
Klappenbroschur
701 Seiten, 14,99 EUR
ISBN: 978-3-453-31665-2

Genre: Urban Fantasy


Klappentext

London ist verschwunden! Die ganze bunte, laute Stadt mit all ihren Schornsteinen, Bewohnern und Geheimnissen ist von einem Moment auf den anderen einfach ratlos und Emily Laing, die junge Frau mit dem Mondsteinauge und den leuchtend roten Haaren, ist ratlos. Wie konnte das nur passieren? Um den Ort zu retten, der ihre Heimat ist, muss Emily zusammen mit ihren alten Gefährten Wittgenstein, Maurice Micklewhite und der Rättin Mina in die Uralte Metropole hinabsteigen. Denn dort, in der magischen Stadt unter der Stadt, liegt die Antwort auf alle Rätsel…


Rezension

Emily hat sich von Tristan Marlowe getrennt und lebt nun wieder in London, wo sie ihre Trickster-Fähigkeiten nutzt, um seelisch verwundeten Kindern zu helfen: Dank ihres elfischen Erbes kann sie ihnen in ihr Bewusstsein folgen und ihnen zeigen, wie sie mit ihren Ängsten umgehen sollen. Doch als sie von einem Besuch bei einem ihrer jungen Klienten zurückkehren will, stellt sie fest, dass es unmöglich ist: London ist verschwunden. Niemand erinnert sich mehr an die Stadt und alle glauben, dass Oxford seit je her die Hauptstadt Englands gewesen.

Zwei mysteriöse alte Damen bringen sie schließlich in die verschwundene Stadt, wo sich Emilys Weg mit dem eines seltsamen kleinen Mädchens kreuzt: Piccadilly Mayfair ist zutiefst verwirrt – und auf der Flucht vor so schaurigen Gestalten wie einem Mann ohne Augen, der die Zeit manipulieren und Menschen seinen Willen aufzwingen kann, oder Werwölfen, die auf der Jagd nach ihr blutige Gemetzel anrichten.

Emily und ihr Mentor, der exzentrische Alchemist Wittgenstein, erkennen rasch, dass Piccadilly etwas mit all den anderen seltsamen und unheimlichen Geschehnissen zu tun hat, die London im Griff haben: U-Bahnen und ganze Bezirke verschwinden, Winterwesen verwandeln Menschen in willenlose Zombies und ein ebenso geheimnisvoller wie tödlicher Gentlemen verfolgt seine undurchschaubaren Pläne. Die Stadt versinkt in Schneetreiben, Chaos und einer Stille, die alles auslöscht. All diese unerklärlichen Begebenheiten werden in einem Stil geschildert, der die magisch-unheimlichen Stimmung noch verstärkt.

Lange häuft Marzi nur Rätsel auf Rätsel und breitet eine düster schillernde Parallelwelt vor seinen Lesern aus. Hier gibt es Elemente des Phantastischen, man lernt eine ganz eigene Interpretation biblischer Mythologie kennen und trifft Gestalten aus allen Epochen der englischen Geschichte wie z.B. Lord Nelson oder Guy Fawkes. Zugleich ist diese Parallelwelt aber eng mit dem lebendigen London der Gegenwart verflochten. „London“ ist eine Geschichte voller eindrucksvoller, rätselhafter und gelegentlich schockierender Bilder und ob ihre Auflösung plausibel ist, wird jeder Leser für sich selbst entscheiden müssen, da die Magie in Marzis Universum keinen klaren Gesetzen folgt und die Regeln der Logik teilweise außer Kraft gesetzt sind. Einige Fragen bleiben auch am Ende des Buches noch offen.

Während die Geschehnisse phantastischer und surrealer nicht sein könnten, sind die Figuren hingegen bei aller Exzentrik sehr realistisch und menschlich gezeichnet. Emily mag zwar eine Halbelfe und Trickster sein, aber zugleich ist sie auch eine junge Frau, die Beziehungen und Freundschaften pflegt, welche die Zeit gelegentlich eben nicht überdauern und die als Waisenkind immer mit einem diffusen Gefühl des Verlusts und der Einsamkeit lebt. Sie ist eine sympathische Protagonistin, die schwer an einigen ihrer Erinnerungen trägt. Der Großteil ihrer Geschichte ist auch aus ihrer Sicht geschrieben. Später kommt noch die Perspektive des Elfen Maurice Micklewhite hinzu, dessen unerklärliche Auferstehung von den Toten niemand außer Emily registriert zu haben scheint. Er bleibt etwas blasser als Emily, auch wenn die Kapitel aus seiner Sicht interessant sind und die Handlung vorantreiben

„London“ ist nicht das erste Buch um Emily und ihre Gefährten. Immer wieder wird auf die Ereignisse aus „Lycidas“, „Lilith“ und „Lumen“, Marzis erster Trilogie um London und die uralte Metropole, verwiesen. Man kann „London“ auch ohne Vorkenntnisse lesen und genießen und kommt so in den Genuss, Charaktere kennen zu lernen, die viel Zeit zum Reifen hatten. Wer sich aber lieber von den Ereignissen der ersten drei Bände überraschen lassen will, sollte sich beim Lesen an die korrekte Reihenfolge halten.


Fazit

Christoph Marzis „London“ ist ein düsterer, rätselhafter Urban-Fantasy-Roman mit sympathischen Protagonisten, der den Leser mit seiner dichten Atmosphäre und seinen einprägsamen Bildern in seinen Bann zieht und immer wieder staunen lässt.


Pro und Contra

+ atmosphärisch und bildgewaltig
+ Verflechtung von Vergangenheit, Gegenwart und Phantastik
+ originelle Ideen
+ beängstigende Gegner
+ sympathische, realistische Figuren

o viele Fragen bleiben offen
o Welt folgt keinen klaren Regeln
o Auflösung kommt ein wenig aus dem Nichts

- beeindruckende Gegenspieler finden in zwei Fällen recht unspektakuläre Enden

Wertung:

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Urban Fantasy, Christoph Marzi, London