Geronimo (Leon de Winter)

dewinter geronimo

Zürich 24.08.2016, Diogenes
Originaltitel: Geronimo (2015)
Übersetzt von Hanni Ehlers
Leineneinband, 446 Seiten
€ 22,00 [D] | € 22,70 [A] | CHF 30,00
ISBN: 978-3-257-06971-6

Genre: Belletristik


Rezension

Leon de Winter wurde in den frühen 1980er Jahren als intellektueller Schriftsteller mit Romanen wie Zoeken naar Eileen W. (1981) und La Place de la Bastille (1981, dt. Place de la Bastille, 2005) bekannt. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich stärker mit jüdischer Identität nach dem Ende der Nazizeit, so in Leo Kaplan (1986, dt. Leo Kaplan, 2001) und Zionoco (1995, dt. Zionoco, 1997). Weiter ist er als Kommentator tagespolitischen Geschehens tätig. Im 2012 veröffentlichten VSV (dt. Ein gutes Herz, 2013) verbindet er die Islamismus-Debatte und den Ritualmord am niederländischen Filmemacher Theo van Gogh mit Elementen aus Thriller und Phantastik zu einem furios erzählten Gesellschaftsroman. Ähnlich vielseitig und unterhaltsam – wie auch zwiespältig rezipiert – ist sein neuer Roman Geronimo, im Original 2015 erschienen.

Tom Johnson, ehemaliges Mitglied der Delta Force, Afghanistan-Veteran, nach schweren Verletzungen Mitarbeiter der Special Activities Division der CIA, erfährt auf einer Feier von Freunden, dass Osama bin Laden aufgespürt wurde und seine Beseitigung durch das Seals Team 6 bevorsteht. Das Team will ihn jedoch nicht liquidieren, sondern entführen. Man hat einige Fragen an ihn, während der Welt vorgegaukelt werden soll, er sei bei dem Einsatz getötet worden. An seiner Stelle soll ein Doppelgänger im Meer versenkt, Beweise sollen fingiert werden.

Tom hat während seiner Zeit in Afghanistan die Tochter eines Übersetzers kennengelernt, Apana, und ihr klassische Musik, allen voran Bach und dessen von Glenn Gould eingespielte Goldberg-Variationen nahegebracht. Bei einem Überfall wurde Apana von Taliban für ihre Liebe zur Musik grausam bestraft. Später wurde sie nach einer Zeit des Missbrauchs von zwei pakistanischen Christen, Jabbar und seiner Mutter aufgenommen.

Geronimo ist das Codewort, das Navy Seals Team 6 der Leitung in Fort Bragg nach Ergreifung bin Ladens durchgeben sollte. Leon de Winter erzählt nicht auf Grundlage weitgehend unbekannter Fakten die Geschichte der Operation nach, die zur Ergreifung des meistgesuchten Terroristen geführt hat. Er erzählt eine eigene erfundene Geschichte. De Winters Buch ist eindeutig identifizierbar als Fiktion. Als eine Version der Wahrheit scheint seine Version ebenso gut zu sein, wie jede andere, die ohne Beweise präsentiert wird.

Der Titel des Buches und der Plot um bin Laden legen den Gedanken nahe, Geronimo sei ein Roman über große Weltpolitik. Bei Betrachtung der Erzählstruktur wird diese Vorstellung jedoch relativiert. Der Roman besteht aus einer Rahmen- und einer Binnenerzählung. Den Rahmen bilden mehrere traurige Telefonate zwischen Tom und seiner Exfrau Vera über Kindstod, Ehebruch, Trennung, Neuanfang, Schuld. Deren dramatischer Gehalt und Bedeutung für die Binnenhandlung erschließen sich zum Ende hin. Die Binnenerzählung setzt sich zusammen aus dreißig Kapiteln in zwei Teilen.

Die Kapitel sind mit Angaben zu Ort, Zeit und Hauptfigur(en) überschrieben. Neben Tom sind dies UBL (Usama bin Laden), Jabbar, BHO (Barack Hussein Obama, ohne Angabe im Text) und IT-Consultant Danny Davis. Das Mädchen Apana wird in den Überschriften nicht genannt, spielt jedoch durchgehend eine wichtige Rolle. Alle Figuren sind über Apana miteinander verknüpft. Die Zeitangaben erlauben eine Differenzierung in fünf Kapitelgruppen, bestimmt durch (1) den Februar 2012, (2) September 2010 bis Mai 2011, (3) die Jahre 2008/2009, (4) Mai bis Oktober 2011 und (5) den Februar 2013. Hieraus ergibt sich eine verschachtelte Komposition: Mittelstück 3, innere Klammer 2-4 und äußere Klammer 1-5.

Bin Laden lebt mit seiner Familie und Vertrauten in einem Versteck im pakistanischen Abbottabad. Er wird als ein Mann beschrieben, der nachts gelegentlich mit dem Motorrad zum Cantt Bazar in Abbottabad fährt, um dort im Nite Shop echte Marlboro zu kaufen. Bei einer dieser Gelegenheiten greift er Apana auf und nimmt sie mit zu sich nach Hause. Bin Laden sorgt sich um seine Familie, und er benötigt Viagra, um den sexuellen Anforderungen seiner drei Ehefrauen genügen zu können. Das zweite Namenskürzel, BHO, zeichnet Barack Obama aus. Ihm widmet de Winter ein Kapitel, in dem der Präsident seiner Rede zur Ergreifung bin Ladens den Feinschliff verpasst. Dabei arbeitet de Winter die politischen Notwendigkeiten und deren Widerspruch zum Wollen Obamas heraus.

Jabbar, der gegenüber bin Laden wohnt, bekommt den Einsatz des Seals Teams mit und beteiligt sich nach dessen Abschluss an der Plünderung des Anwesens bin Ladens durch Einheimische, wobei er an einen (in einem Hocker versteckten) USB-Stick gerät. Bin Ladens USB-Stick enthält Informationen, die Obama schweren politischen Schaden zufügen könnten. Diese Informationen scheinen der tatsächliche Grund für den Einsatz gegen bin Laden zu sein.

Apana scheint dem Mädchen Bibi Aisha nachgebildet, die als Entschädigung mit zwölf Jahren einem Taliban übereignet und später von diesem verstümmelt wurde. Weltweit bekannt wurde sie durch einen Titel im Time Magazine vom Sommer 2010 und durch ihr menschenrechtliches Engagement.


Fazit

Leon de Winters Geronimo ist eine politische Fantasie über eine verschwörungstheoretische Alternative zur Jagd auf Osama bin Laden, erzählt wie ein Spionagethriller, im Zentrum mit einer tragischen anderen Geschichte verbunden. Eins der literarischen Glanzlichter des Jahres.


Pro und Kontra

+ große Politik und kleine Menschen in internationalem Setting
+ komplexe Erzählung über Schuld
+ multiperspektivisch
+ aberwitzige kleine Geschichten, so das Gespräch über die Möglichkeiten, drei Nicht-Amerikaner legal in die USA zu bekommen

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5