Tess Gerritsen (deutsche Übersetzung - 26.12.2016)

Interview mit Tess Gerritsen

tess gerritsen 01Literatopia: Hallo Tess! Wann und warum haben sie angefangen zu schreiben? Wollten sie schon immer Autorin werden?

Tess Gerritsen: Ich wollte, seit ich sieben war, immer Schriftsteller werden. Allerdings hielt mein Vater das für keine Möglichkeit sein Geld zu verdienen. Er wollte, dass ich Arzt werde und das war der Grund, weswegen ich es dann geworden bin. Aber nach ein paar Jahren als Ärztin, wollte ich lieber das machen, was ich schon immer geliebt habe und das war das Schreiben. Mein erstes Buch schrieb ich, als ich mein erstes Kind bekam und ich im Krankenhaus war.

Literatopia: Medizin war also nicht ihre erste Wahl als Berufswunsch?

Tess Gerritsen: Nein, ich wollte immer Schriftsteller werden.

Literatopia: Welche Autoren haben sie in ihrem Stil beeinflusst?

Tess Gerritsen: Oh, ich weiß nicht. Ich habe als Kind viel gelesen. Ich las viele Mysterybücher, viel Science Fiction, deshalb denke ich, dass alles, was man liest, Einfluss auf das spätere Schreiben hat. Deshalb lese ich. In letzter Zeit sehr viel von Stephen King. Ich finde, er entwickelt seine Charaktere extrem gut und als ich jünger war, habe ich eine Krimiserie mit dem Namen Nancy Drew gelesen. Ist sie überhaupt in Deutschland bekannt?

Literatopia: Leider nicht.

Tess Gerritsen: Die Reihe handelt von einer jungen Detektivin. Als ich noch ein richtig kleines Mädchen war, war sie ein Vorbild. Jeder, alle Mädchen, wollten Nancy Drew sein. Sie war schlau, klärte Verbrechen auf und half der Polizei und sie hat ebenso einen Freund und fuhr mit ihrem eigenen Auto. Ihr Vater ließ sie abends lange weg bleiben. Sie war, wie jedes Mädchen sein wollte.

Literatopia: Sind ihre Erfahrungen als Ärztin eine Inspirationsquelle für ihr Schreiben?

Tess Gerritsen: Es macht die eigene Arbeit realer, unterfüttert sie. Als ich zu schreiben begann, waren es keine Romane aus dem Bereich der Medizin. Ich schrieb romantische Suspenseromane. Harvest war mein erster Medizinthriller und ich hätte ihn nicht schreiben können, wenn ich nicht Ärztin gewesen wäre. Ärztin zu sein, hilft mir, all die Szenen zu beschreiben. Es hilft mir zu verstehen, wie Ärzte denken. Ich glaube, dass ist es, was ich meinem ehemaligen Beruf verdanke. Die Möglichkeit zu verstehen, wer Maura Isles ist.

Literatopia: Haben sie jemals auf Ereignisse aus ihrem Berufsalltag zurückgegriffen?

Tess Gerritsen: Ja, sicher. Ich glaube, ich kann mich daran erinnern ein paar meiner medizinischen Erfahrungen in Geschichten eingeflochten zu haben. Meine Erinnerungen daran z.B. wie es ist, zu wissen, dass ein Patient sterben wird oder was ein Arzt in der Notaufnahme macht. Viele meiner Erfahrungen enden schließlich in den Büchern. Plots allerdings nie, Es gab bei uns keine Mordfälle. (lacht)

Literatopia: Wieviel Zeit verbringen sie mit Recherche?

Tess Gerritsen: Es hängt vom Buch ab. Totenlied, war mit viel Rechercheaufwand verbunden, weil es von etwas handelt, von dem ich nichts wusste. Italien und der Faschismus war ein ganz neues Thema für mich. Bücher, wie die meisten meiner Krimis, brauchen hingegen nur wenige Wochen der Recherche. Die Medizinthriller bedeuten da nur sehr wenig Aufwand. Aber wenn ich ein Buch wie Gravity schreibe, sieht das ganz anders aus. Gravity hat mich zwei Jahre der Recherche und des Schreibens gekostet.

Literatopia: Haben sie Hilfe bei der Recherche?

Tess Gerritsen: Nein, nein, ich rufe verschiedene Menschen an. Das heißt, ich will direkt mit ihnen sprechen. Ich bekomme auch viele Ideen durch das Recherchieren und deswegen muss ich sie auch selber durchführen.

Gerritsen abendruhLiteratopia: Was macht für sie eine gute Geschichte aus?

Tess Gerritsen: Für mich ist es eine gute Geschichte, wenn Dinge nicht ausbalanciert sind. Etwas muss sich falsch anfühlen. Jedes einzelne Kapitel, das ich schreibe, möchte ich, dass der Leser das Gefühl hat, etwas ist falsch, aber nicht immer weiß, warum. Und wenn Dinge nicht richtig sind, will man den Grund dafür herausfinden. Vielleicht ist es ein Mordfall oder jemand wird vermisst, aber es muss etwas sein, bei dem man sich unwohl fühlt und ich denke, Geschichten handeln immer davon, diese Spannung abzubauen. Das Ende einer guten Geschichte sollte immer sein, das Schlechte aus dem Weg zu räumen.

Literatopia: Was ist wichtiger: Handlung oder Charaktere?

Tess Gerritsen: Sie sind gleich wichtig. Ich wüsste nicht, wie das eine ohne das andere gehen sollte.

Literatopia: Manchmal liest man ja Bücher, die sehr von den Charakteren leben und manchmal hat man nur Handlung, ohne entwickelte Charaktere.

Tess Gerritsen: Man braucht beides. Man muss Beides gleich beachten, ansonsten sind dem Leser entweder die Charaktere nicht wichtig genug oder die Figuren machen nichts interessantes. Es muss Personen geben, die einem wichtig sind und sie müssen in eine gute Geschichte eingebunden sein.

Literatopia: Für Totenlied haben sie ein Stück komponiert. Haben sie das schon mal gemacht?

Tess Gerritsen: Ja, für meine Musikerfreunde. Ich habe einige Freunde, die schottische und irische Musik machen. Also mit Geigen und vielen Gitarren. Wenn wir zusammen spielen, bringen einige eigene Stücke mit. Ich habe ein paar Jigs, Reels und seltener Walzer komponiert.

Literatopia: Was ist herausfordernder für sie: Schreiben oder komponieren? Was ist schwieriger?

tess gerritsen 03Tess Gerritsen: Beides ist auf seine Art schwierig. Das Problem mit dem Komponieren ist, dass ich eine Melodie in meine Kopf brauche, ab da wird es einfach. Aber bis ich die Melodie, die Idee, was das für eine Melodie ist, habe, dauert manchmal relativ lange und manchmal ist es so, dass man etwas komplett anderes macht und mit einem Mal Musik in seinem Kopf hört und dann... wenn man dann kein Aufnahmegerät, oder ein Blatt Papier und Bleistift hat, ist es verloren. Ich denke, Musik hängt von Inspiration ab, Schreiben nicht allzu sehr.

Literatopia: Wie ein Handwerk?

Tess Gerritsen: Ja, Schreiben ist mehr Handwerk. Und Musik ist für mich Inspiration.

Literatopia: Hören sie Musik während des Schreibens?

Tess Gerritsen: Nein, mach ich nicht. Wenn ich schreibe, muss ich die Stimmen hören. Ich muss die Charaktere sprechen hören und da wäre Musik im Weg.

Literatopia: Ich weiß von ein paar Autoren, die Musik hören und einer von denen sagte, dass er beim Schreiben nur Musik hört...

Tess Gerritsen: Die keinen Text hat. Das kann ich nachvollziehen. Ich mag die Stille, ich will hören, was sie sagen.

Literatopia: Sitzen sie während des Schreibens allein in ihrem Zimmer?

Gerritsen grabesstilleTess Gerritsen: Allein in meinem Zimmer. Die Tür ist geschlossen. Mein Mann hat über die Jahre gelernt, nicht einzutreten und mich zu stören, wenn ich arbeite.

Literatopia: Und wenn er es doch tut? Wie reagieren sie da?

Tess Gerritsen: Verschwinde! (lacht)

Literatopia: Wie schwer war es eine rationale Erklärung für die Ereignisse in Totenlied zu finden?

Tess Gerritsen: Oh, die hatte ich von Anfang an. Ich wusste sofort, dass das Kind nicht wirklich böse ist, d.h. Ich wollte nicht, dass es das ist. Ich will, dass sich die Frage stellt, wem vertraust du? Wer glaubt Julias Story. Sagt sie die Wahrheit oder sieht sie vielleicht die Wahrheit nicht? Darum geht es. Denn sie ist der Erzähler, der Leser muss ihr zuhören, muss ihr glauben, aber was, wenn er falsch liegt?

Literatopia: Also spielen sie mit einer Art Illusion.

Tess Gerritsen: Es ist eine Art Streich, den ich dem Leser spiele, in dem man weiß, dass man dem Erzähler nicht trauen sollte, weil sie eben selbst nicht weiß, was real ist.

Literatopia: Sie sagten, sie hatten die Idee für Totenlied in Italien. Sind Orte und Reisen die inspierierendsten Dinge für sie, oder sind die kleinen Dinge wichtiger, wie z.B. das Lesen einer Zeitung?

Tess Gerritsen: Nun, alles zusammen. Manchmal entnehme ich Geschichten der Zeitung. Ein paar meiner Bücher basieren auf echten Kriminalfällen. Reisen hilft viel, denke ich, weil man nicht arbeitet, der Geist ist frei, und damit offen für alle Arten neuer Ideen. Die Idee für Totenlied hatte ich also in Venedig. Die Idee für meinen Rizzoli & Isles-Roman Der Schneeleopard hatte ich, als ich in Afrika auf Safari war. Ich denke, ich bin immer auf der Suche nach der einen Idee die mir einen emotionalen Schauerverschafft. In Afrika ist man mitten im Busch und die einzige Person, die einen am Leben erhält, ist der Tourguide, denn es ist dort draußen sehr gefährlich, und ich dachte, was wäre, wenn das gefährlichste Tier im Busch der eigene Tourguide wäre und das gab mir diese großartige Idee und so enstand Der Schneeleopard.

Literatopia: Da sie Rizzoli & Isles erwähnen, was denken sie über die Fernsehserie? Dafür haben sie viel geändert, sind sie zufrieden mit den Änderungen der Produzenten?

Tess Gerritsen: Nun, es sind nicht die Änderungen, die ich gemacht hätte. Aber, es ist erfolgreich. Sie haben Glamour hinzugefügt, haben schöne Schauspieler, wunderbare Charaktere und haben etwas Humor beigegeben, was ich mag. Ich mag den Humor. Und sie haben viel bei den Beziehungen zwischen den Figuren geändert. Aber, wie gesagt, es ist erfolgreich, es verkauft Bücher. Ich bin einfach froh, dass die Serie bereits sieben Jahre im Fernsehen läuft.

Literatopia: Sie können das also trennen und sagen, das ist deren Sache und was ich tue, ist was anderes.

Gerritsen leichenraubTess Gerritsen: Ich schreibe meine Bücher und die Serie beeinflusst meine Bücher nicht. Denn viele Menschen haben die Bücher gelesen, aber nie die Serie gesehen, und dem muss ich treu bleiben.

Literatopia: Sie übernehmen also nie etwas von der Serie für ihre Bücher?

Tess Gerritsen: Nein, ich glaube, das Einzige... nein im Prinzip nicht. Vielleicht hat die Serie mich dahingehend beeinflusst Jane und Maura einander näher zu bringen. Zu besseren Freunden. Denn, als die Serie begann, waren sie immer noch hauptsächlich Kollegen. Zwei Profis, die einander vertrauten, aber sie waren keine besten Freunde und nachdem ich die Serie gesehen hatte, dachte ich, dass das der wichtige Grund ist, warum die Menschen diese Charaktere lieben, dass sie sehen, dass sie beste Freundinnen sind. Sie sehen zwei Frauen, die starke Partner sein können. Das hat mich vermutlich etwas beeinflusst, sie zu besseren Freundinnen zu machen.

Literatopia: Wem von den Beiden fühlen sie sich näher?

Tess Gerritsen: Ich identifiziere mich mit Maura. Maura ist eine Ärztin. Sie denkt logisch, sie will für alles eine Erklärung....sie ist still und ich habe sehr viel von meinem Leben bei ihrer Biographie auf sie übertragen. Zum Beispiel ging sie auf dasselbe College, auf das ich ging. Sie studierte Anthropologie. - Viel von meinem Leben ist ebenso in Mauras zu finden.

Literatopia: Ihre Charaktere reflektieren also manchmal ihre eigene Persönlichkeit?

Tess Gerritsen: Maura tut es. Jane ist eher das Gegenteil von mir.

Literatopia: Gibt es eine spezielle Beziehung zu ihren Figuren? Sind sie auf eine gewisse Weise für sie real?

Tess Gerritsen: Ein paar von ihnen sind es. Ganz klar meine ich Jane und Maura sehr gut zu kennen. Kämen sie durch die Tür, würde ich sie sofort erkennen und da in vielen Dingen Maura auf meinem Leben basiert, fühle ich mich ihr sehr nahe. Auch wenn ich nie eine Beziehung mit einem Priester hatte.

Literatopia: Genießen sie ihre Tour durch Europa?

Tess Gerritsen: Oh ja. Es hat vor allem Spaß gemacht, dass wir die Möglichkeit hatten, Musik zu machen. Das ist es, was diese Tour zu etwas besonderen macht.

Literatopia: Normalerweise machen sie keine Musik? Selbst in den USA nicht?

Tess Gerritsen: Nun, bei diesem Buch, denn das Buch ist über Musik, ist das zu einem wichtigen Teil der Präsentation geworden. Aber in den USA, habe ich nur wenige..., es ist schwierig einen guten Violinisten zu finden. Das ist ein echtes Problem. In manchen Städten konnte ich einen guten Geiger finden, aber nicht immer und das Stück ist wirklich schwierig. Es erfordert also jemanden, der ein Profi ist, um dieses Musikstück (Incendio) zu spielen.

tess gerritsen 06Literatopia: Gibt es Unterschiede zwischen dem Publikum in Europa und den USA?

Tess Gerritsen: Ich denke, das Publikum in Deutschland ist zweifellos jünger. Mein Publikum in den USA tendiert dazu, aus vielen alten Frauen zu bestehen. Hier sehe ich ebenso viele junge Menschen. Und ich meine auch ein paar Männer mehr gesehen zu haben. In den USA ist es fast eine Veranstaltung nur für Frauen.
Und in den USA weiß ich nicht, ob das Publikum die Geduld hätte, eine Stunde oder anderthalb Stunden zuzuhören. Hier ist es aufmerksamer.

Literatopia: Schätzen sie andere Dinge?

Tess Gerritsen: In den USA trete ich auf und halte einen Monolog. Ich spreche ungefähr eine halbe Stunde und beantworte eine Viertelstunde Fragen und dann ist es vorbei. Insgesamt also eine Dreiviertelstunde. Es sei denn ich, habe einen Musiker dabei und wir spielen etwas. Etwas, das ich in den USA gemacht habe, weil ich nicht immer einen Violinisten finden kann, ist eine kleine Slightshow. Wenn es einen Projektor gibt, wird diese abgespielt mit einer gekürzten Version der Musik (Incendio) und Fotos von Venedig und dem jüdischen Viertel.

Literatopia: Sie sagten, sie interessieren sich für Geschichte. Hatten sie die Zeit, sich die Sehenswürdigkeiten in Europa anzusehen?

Tess Gerritsen: Nein, nicht auf dieser Tour. Ich war zu beschäftigt. Ich habe nur das Innere von Hotels und Bahnhöfen gesehen. Es ist eine Schande, Europa hat eine so reichhaltige Geschichte. Es ist einfach keine Zeit da.

Literatopia: Was denken sie, warum mögen die Menschen solch harte und brutale Thriller?

Tess Gerritsen: Oh, ich mag sie und seltsamerweise mögen Frauen sie wirklich, so weit ich weiß. Frauen mögen Mysterien und wirklich angsteinflößende Thriller. Ich weiß nicht warum. Ich glaube, wir mögen es alle, etwas Angst eingejagt zu bekommen. Wir möchten alle das Gefühl haben, in unserem Leben, gebe es etwas Aufregendes. Fiktion ist ein guter Weg, da es sicher ist.

Literatopia: Haben sie manchmal Angst vor sich selbst, angesichts der Tatsache, was ihre Vorstellungskraft alles hervorbringt?

Tess Gerritsen: Nein, nicht wirklich. Ich glaube, ich war schon immer von der dunklen Seite fasziniert, davon was Menschen dazubringt, seltsame Dinge zu tun, was in ihrem Leben passierte, um sie zu dem zu machen, was sie sind. Deshalb ängstige ich mich selbst nie. Aber es ist auch so ähnlich, als würde man versuchen, sich selbst zu kitzeln. Das geht nicht, denn man hat alles unter Kontrolle.

Literatopia: Gibt es einen Ratschlag, den sie jemanden geben können, der selbst einen Roman schreiben möchte?

Tess Gerritsen: Lies viele Bücher, um die Grundlagen des Erzählens zu verstehen und achte auf deine Gefühle, wann immer etwas passiert. Denn Bücher, wirklich gute Bücher, leben von Emotionen und Spannung. Deswegen erinnere dich immer, wie du dich in einer angespannten Situation gefühlt hast, denn das ist es auch, was deine Charaktere fühlen werden.

Literatopia: Vielen Dank für das Interview!


Autorenfotos: © Derek Henthorn

Autorenhomepage: www.tess-gerritsen.de

Rezension zu "Totenlied"

Rezension zu "Totengrund"


Dieses Interview wurde von Markus Drevermann für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.