Der Überläufer (Siegfried Lenz)

lenz ueberlaeufer

Hoffmann und Campe 2016
Gebunden, 368 Seiten
€ 25,00 [D] | € 25,70 [A] | CHF 36,90
ISBN: 978-3-455-40570-5 (reguläre Ausgabe)
ISBN: 978-3-455-40590-3 (Einmalige Vintage-Ausgabe)

Genre: Belletristik


Inhalt

Im Sommer 1944 befindet sich Obergrenadier Walter Proska, der aus dem masurischen Lyck stammt, nach einem Heimaturlaub auf dem Weg zurück an die Ostfront. Partisanen verüben auf den Zug der Reichsbahn einen Anschlag, den allein Proska überlebt. Er wird von Außenposten 25 der Wehrmacht aufgegriffen, der eben diese Zuglinie schützen soll. Standort dieses Postens, bestehend aus sechs Mannschaften und einem Unteroffizier, ist eine gut gesicherte Holzhütte mit dem Namen Waldfrieden. Nach einem Anruf des Unteroffiziers Walter Stehauf in den wenige Kilometer entfernten Standort Tamaschgrod bleibt Proska beim Außenposten.

Der Alltag der Soldaten wird bestimmt durch Streifendienst, Mücken in den umliegenden Sümpfen und Aufeinandertreffen mit Partisanen. Der Unteroffizier schießt einen Pfarrer in den Rücken und schikaniert seine Leute. Als Poppek und Zacharias auf Streife sind, sucht Zacharias Abkühlung in einem See und wird von Partisanen getötet. Einmal muss Proska mit einem Kameraden ein sabotiertes Telefonkabel flicken. Er trifft auf dem Weg die junge Partisanin Wanda wieder, der er zuvor im Zug begegnet war. Die beiden scheinen sich zu lieben, schlafen auch miteinander.

Wolfgang Kürschner kommt nicht vom Streifendienst zurück, Proska vermutet, er sei von Partisanen getötet worden. Tagein, tagaus wiederholt sich stumpfsinnige Routine, die die Soldaten auf je eigene Weise aufzulockern versuchen. Der Schlesier Jan “Schenkel” Zwiczosbirski hat einen persönlichen Kampf gegen einen Hecht auszufechten, der ihm immer wieder entwischt. Der Koch Baffi versucht seinem Huhn Alma Kunststücke beizubringen.

Als Proska an einem anderen Tag von einer Streife zurückkommt, steht er Partisanen gegenüber, die seine Kameraden gefangengenommen haben. Unter den Polen befindet sich Wanda, die ihn nach einem Gespräch fortschickt. Wenig später nimmt ihn ein anderer Mann gefangen und bringt ihn ins Dorf zu dem Russen Bogumil. Proska trifft dort seinen Kameraden Kürschner wieder. Tatsächlich ist Wolfgang ein Deserteur. Er kämpft mit den Russen gegen die Wehrmacht. Auch Proska wird zum Deserteur.


Rezension

Der Überläufer enthält ein Nachwort zu seiner Geschichte, die ähnlich spannend ist wie die Erzählung selbst. Im Jahr 1951 veröffentlichte Lenz seinen ersten Roman, Es waren Habichte in der Luft. Im Jahr darauf sollte Der Überläufer folgen, dessen Arbeitstitel "Da gibt’s ein Wiedersehen" war. Lenz, der in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges eingezogen wurde und desertierte, schrieb mit seinem zweiten Roman ein Buch, in dem er sich mit dem Thema Desertion auseinandersetzt.

Proska und Kürschner arbeiten zu Beginn ihrer neuen Existenz in der Propaganda ("Wehrkraftzersetzung") mit, bis sie schließlich wieder eine Waffe in die Hand nehmen. Nach dem Krieg wird Proska in Ostdeutschland eingesetzt, soll Hilfe leisten beim Aufbau der Verwaltung. Um ihn herum verschwinden Mitarbeiter, bis er selbst in Gefahr gerät, weil er Fragen stellt. Er flüchtet in den Westen. Als Lenz das Buch schrieb, hatte man in Deutschland ein wenig differenziertes Verhältnis zur Desertion während des Zweiten Weltkrieges. Der Roman sollte überarbeitet werden, aber es kam dabei nicht heraus, was der zuständige Lektor Otto Görner wünschte.

Anfangs als ästhetische Kritik formuliert, wurde schnell deutlich, dass die Ablehnung im Kern politischer Natur war. Die Überarbeitung führte auf einen Roman in zwei Teilen, deren zweiter die Phase der Desertion und die Zusammenarbeit mit den Russen zum Thema hatte. Lenz gestaltet diesen Teil episodenhaft, nicht als fließende Erinnerung Proskas. Die beiden Sphären, Teile, unterscheiden sich im Äußeren. Dieses Äußere wird von Lenz jedoch zusammengeführt über zwei Handlungen, die auffällig parallel konstruiert sind: Proska erschießt in jedem der Teile einen Mann, der eine enge Bindung aufweist zu einer Frau, zu der er wiederum eine enge Bindung aufweist.

Wolfgang "Milchbrötchen" Kürschner ist der Soldat in Stehaufs Gruppe, zu dem Walter Proska eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Sie führen Gespräche über den Krieg als Verbrechen, über Deutsche und Nazis, Pflicht und Gehorsam. Beide unterstützen die Russen im Kampf gegen die Nazitruppen. Bei einem Einsatz kommt es zu einer tragischen Kettenreaktion, die Proskas Möglichkeiten für die Zukunft verändert. Der Überläufer ist ein Kriegsroman gegen den Krieg, Schuld wird schnell zu einem universellen Phänomen. Man kann sich der Schuld kaum entziehen, es sei denn, durch Flucht oder Suizid.

Die Entscheidung, ob Desertion oder nicht, ist ein moralisches Dilemma von erheblich anderer Qualität als das Lehrbeispiel des bekannten Straßenbahn-Problems, welches sich dagegen trivial ausnimmt, weil es die geringstmögliche Dimensionalität aufweist, lediglich einen abstrakten und quantitativen Vergleich erlaubt und zwei sichere Ereignisse als Alternativen bereithält. Der mögliche Deserteur jedoch befindet sich in einer hochkomplexen Entscheidungssituation mit in den Konsequenzen unbekannten Alternativen. Der seinerzeit 25-jährige Siegfried Lenz bereitet dies Problem dialogisch interessant auf und löst es bis hin zum Preis, den Proska für seine Desertion zahlen muss. Zudem wird dieses Dilemma nicht allein als rationales Entscheidungsproblem behandelt, sondern erhält auch eine emotionale Dimension.


Fazit

Der Überläufer, ein Werk aus dem Nachlass von Siegfried Lenz, wurde 65 Jahre nach seiner Ersteinreichung beim Verlag Hoffmann und Campe veröffentlicht. Bildmächtig, atmosphärisch dicht, humorvoll und tragisch, ist der Roman ein lesenswerter Beitrag zu einem wichtigen Thema.


Pro und Kontra

+ differenzierte Betrachtung des Themas Desertion
+ hervorragende Charakterentwicklungen
+ schöne Naturbeschreibungen

- gelegentlich lesen sich Metaphern etwas seltsam

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


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