Golkonda 2013
Originaltitel: Neveryóna, or: The Tale of Signs and Cities (1983, 1993)
Übersetzung von Annette Charpentier
Bearbeitet von Alexander Müller
Klappbroschur, 616 Seiten
€ 19,90 [D] | € 20,50 [A] | CHF 28,90
ISBN 978-3-942396-25-7
Genre: Fantasy
Rezension
Samuel R. Delanys ambitioniertestes Projekt, die Fantasyreihe über das Reich Nimmèrӱa, wird vom Golkonda-Verlag in vier klappbroschierten Paperbacks herausgegeben. Der erste Band enthält fünf Geschichten aus Nimmèrӱa. Der zweite Band, Nimmeryána oder Die Geschichte von Zeichen und Städten, ist 1983 im Original und in deutscher Übersetzung erstmals 1984 bei Bastei Lübbe erschienen. Für die Ausgabe bei Golkonda wurde die 1993 veröffentlichte überarbeitete Neuausgabe des Originals zugrundegelegt, um die Übersetzung zu überprüfen und zu ergänzen. Bei Golkonda in Arbeit sind die beiden Bände Flucht aus Nimmèrӱa und Rückkehr nach Nimmèrӱa.
Nimmeryána oder Die Geschichte von Zeichen und Städten ist die sechste und mit rund 600 Seiten Text umfangreichste Geschichte in der Reihe. Eine der Hauptfiguren ist die fünzehnjährige Pryn, die Großnichte einer Erfinderin. Sie begegnet verschiedenen Figuren, die in den Geschichten aus Nimmèrӱa eingeführt wurden, darunter Gorgik ("Die Geschichte von Gorgik"), Madame Keyne ("Die Geschichte von Töpfern und Drachen") und Norema ("Die Geschichte der Alten Venn").
Pryn begibt sich auf eine Reise nach Nimmèrӱa beziehungsweise Kolhari, wird aufgenommen von der reichen Händlerin Madame Keyne, die die gegen den Sklavenbefreier Gorgik kämpfenden Rebellen finanziert. Zu einem späteren Zeitpunkt trifft Pryn im Süden auf die mächtige Familie Jue-Grutn, die ebenfalls die Rebellion Gorgiks beenden will. Pryn erlebt die revolutionären Kräfte, die Gorgik freisetzt. Sie durchschaut nach und nach ein Ränkespiel, wodurch sie zugleich in die Lage versetzt wird, die Absichten Gorgiks zu verstehen.
Pryn verbringt einige Zeit bei einer Bauernfamilie in der Kleinstadt Enoch. Diese Familie repräsentiert die Menschen, die Gorgik für sich gewinnen muss, will er mit seinem Vorhaben erfolgreich sein, Menschen, die geschichtslos sind und kein politisches Bewusstsein haben. Die Menschen von Enoch können sich Pryn als Bewohnerin ihrer Stadt nur in der Rolle einer Prostituierten vorstellen. Pryns Fantasie hilft ihr, den Verführungen zu widerstehen, die sich aus der Gutherzigkeit der Einwohner Enochs ergeben.
Pryn wird wiederholt für eine Spionin gehalten, ist verdächtig, nur weil sie insoweit eine Sonderstellung in ihrer Kultur einnimmt, als sie zu den Wenigen gehört, die Lesen und Schreiben können. Irgendwann begegnet sie den Vorwürfen mit einer Kapitulation, die zugleich Einsicht ist: Um für andere Menschen schreiben zu können, muss man vielleicht ein Spion sein. Man kann auch formulieren: Wer über andere Menschen schreiben will, muss diese zuerst beobachten, darf keine Vorbehalte gegen den damit einhergehenden Voyeurismus haben.
Der enge Zusammenhang von Handlung und Sprache wird von Delany anhand eines Buchstabens hergestellt: „Sie war fünfzehn, und sie flog. Ihr Name war pryn – weil sie über das Schreiben Bescheid wusste, aber keine Ahnung von Großbuchstaben hatte.“ Als sie wenige Seiten später, sie will die Welt für sich erobern und Freiheit erlangen, auf Norema trifft, lernt sie von dieser die korrekte Schreibweise und Aussprache ihres Namens: Pryn. Mit diesem Namen ausgestattet, fällt es ihr leichter, ihren Weg zu gehen. Sie lernt verschiedene Figuren des ersten Buches kennen, erfährt, was Zivilisation ist, worin der Unterschied besteht zwischen Nimmèrӱa und Nimmeryána.
Weiter lernt Pryn, was ein Astrolabium ist, ein roter Schal, ein Sklavenhalsband – und wie die Semantik die Begriffe im Fluss hält, Kontexte Bedeutungen verschieben. Wie aus einem Sklavenhalsband am Hals eines Nicht-Sklaven etwas anderes wird. Und wie aus einer Reise, auf der etwas zu erfahren ist, eine Entwicklungsgeschichte werden kann. Madame Keyne wird eine wichtige Ausbildungsinstanz für Pryn.
War man im ersten Buch noch etwas verloren ohne Karte, konnte aber auf Grundlage der verfügbaren Informationen auch keine – zumindest brauchbare – Karte erstellen, sieht es hier etwas anders aus. Auf unbekanntem Territorium droht man verlorenzugehen, da kann eine Karte hilfreich sein. Aber was ist eine Karte überhaupt? Es gibt Zeichen, die sich bei aufmerksamer Beobachtung erkennen lassen. Dazu gehören ein Garten, Gegenstände wie die bereits genannten, Gorgiks Astrolabium, ein Instrument, mit dem Seeleute etwas anfangen können, um sich in der unendlichen Weite zurechtzufinden. Delany beschreibt die Magie als eine Karte für einen nicht existierenden Raum, bestimmt durch Parameter, mit denen sich imaginäre Konstellationen erzeugen lassen. Zeichen, die wir nicht kennen, sind eine Herausforderung, sie helfen uns unter Umständen, mehr über uns und die Welt zu erfahren.
Gorgik ist auch im zweiten Band eine zentrale Figur. Wir wissen, dass er sich in einem Freiheitskampf befindet, jedoch nicht, was er für Zielvorstellungen hat, was er mit seinem Handeln, besonders den Sklavenbefreiungen, erreichen will. Vielleicht geht es ja allein darum, eben diese Befreiungen durchzuführen, in einer Welt, in der Sklaverei, mehr noch Unfreiheit, eine Bestimmungsgröße ist. Damit wäre Gorgik ein sozialer Rebell, auch wenn er sich dessen nicht bewusst sein sollte.
Bereits in der letzten Erzählung des ersten Buchs, als Gorgik mit Sark Sklaven befreit, gibt es eine Diskussion zwischen Sark und den Sklaven, in denen die Frage gestellt wird, wovon und wozu sie überhaupt befreit werden, welche Folgeprobleme sich daraus ergeben können, die vielleicht den Gewinn der Freiheit mit unzumutbaren Kosten einhergehen lassen. Freiheit als vielschichtige Problematik. Sie wären frei in einer Welt, die nicht die ihre ist, die ihnen gegenüber feindselig ist und die sie nicht bekämpfen wollen. Man kann einen Menschen nicht befreien, wenn dieser Akt sich außerhalb seiner abspielt und sein Gehirn nicht erreicht, er nicht verstehen und lernen kann.
Freiheit bedeutet für Gorgik offensichtlich nicht nur, sich frei zu bewegen und zu verhalten und keines anderen Menschen Eigentum zu sein. Es bedeutet auch, sich seiner Handlungsrestriktionen bewusst zu sein, der Beschränkungen, die man nicht verändern kann. Er geht auf eine neugierige, erkundende Weise damit um, was sich auch darin äußert, dass er und Sark eine Art Spiel treiben mit Insignien der Unfreiheit.
Pryn muss sich irgendwann entscheiden zwischen den Vorstellungswelten von Madame Keyne und Gorgik, was ihr nicht gelingt. Deshalb verlässt sie beide und macht sich auf den Weg, der sie nach Enoch führt. Dort lernt sie zyklische Kräfte kennen, das Immergleiche, bestehend aus der Erfüllung von Primärbedürfnissen, Armut, Krankheit, Altern und Tod. Jede Generation reproduziert die Muster der vorhergehenden mit kleinen Änderungen.
Pryn jedoch ist anders, kann von ihren konkreten Beobachtungen abstrahieren und die Welt so besser verstehen. Sie folgt den Spuren Gorgiks, befreit ebenfalls Sklaven, jedoch auf andere Weise. Ihr gelingt es, sich gegen den Druck der Menschen zu wenden, die aus ihr jemanden nach ihren Vorstellungen formen wollen. Probleme wie dieses werden verhandelt in einem vernetzten System, dass sich über Paare gestaltet: Individuum und Gesellschaft, Freiheit und Sklaverei, Wahrheit und Geschichte – eine Beziehung, die Delany offen herstellt -, Zentrum und Peripherie, Barbarei und Zivilisation.
Fazit
Samuel R. Delany erzählt in Nimmeryána oder Die Geschichte von Zeichen und Städten eine im (Sub)Genre der Sword and Sorcery verortete Geschichte, die er verwendet, um menschliche Zivilisation auf der Zeichenebene zu verstehen. Die Grammatik sozialer Reproduktion ist ebenso Thema wie die Macht der Zeichen, der Sprache – behandelt auf multiperspektivische Weise. Der Text ist gefüllt mit Drachen und Magie, Barbaren und zivilisierten Menschen, und diskutiert in Form von Fantasy die Bedingungen von Fantasy wie auch die Nutzung von Sprache.
Pro und Kontra
+ die imaginäre Welt ermöglicht die Untersuchung des Gegenstandes unter Nicht-Bindung an historische Genauigkeit
+ enthält die Zutaten von Sword and Sorcery, ist dabei nur selbstreflexiv
+ semiotische und linguistische Spiele
Wertung:
Handlung: 5/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 5/5