Netzwerk (Robert Charles Wilson)

wilson netzwerk

München 2017
Originaltitel: The Affinities (2015)
Übersetzung von Friedrich Mader
Taschenbuch, 378 Seiten
€ 9,99 [D] | € 10,30 [A] | CHF 14,90
ISBN 978-3-453-31657-7

Genre: Science Fiction


Inhalt

Der New Yorker Adam Fisk studiert, finanziert durch seine Großmutter, in Toronto Mediendesign. Er ist mit seinem Leben unzufrieden. Als er sich mal wieder seine Unzulänglichkeiten nicht eingestehen will, meldet er sich für ein soziales Projekt des Data-Mining-Unternehmens InterAlia an. Unter Anwendung der sozialen Teleodynamik werden Personengruppen gebildet, die ein hohes Maß an Kompatibilitäten aufweisen. Diese Gruppen werden nach dem phönizischen Alphabet sortiert und Affinitäten genannt. Ihre Mitglieder könnten äußerlich unterschiedlicher kaum sein. Innerhalb einer Affinität gibt es einen hohen Grad an Kooperationsbereitschaft, die sich im privaten wie beruflichen Bereich auswirkt.

Adam absolviert alle Tests erfolgreich und wird Mitglied der Tau-Affinität, die sich um ihn kümmert, ihm bei seinen privaten Problemen behilflich ist, ihm im Unternehmen des Tau-Mitglieds Walter einen profitablen und interessanten Job verschafft. Da Adam eine neue Bleibe sucht, zieht er bei den beiden Frauen ein, die ihr Haus für die Treffen zur Verfügung stellen. Als seine Großmutter stirbt, steht seine Affinität ihm hilfreich zur Seite. Im Zeitverlauf werden einige Affinitäten größer und gelangen zu finanzieller und politischer Macht. Die Erzählung spielt dies am Beispiel von Tau und Het durch. Irgendwann stellt sich eine Situation ein, in der nicht mehr die Gemeinsamkeiten, sondern die Unterschiede wichtiger werden. Daraus entwickeln sich Konflikte bis hin zum Krieg.


Rezension

Wilsons Roman handelt an der Oberfläche davon, wie sich durch die Weiterentwicklung sozialer Netzwerke und deren Nutzungsmöglichkeiten die Welt verändern kann. Die Veränderung geht in kleinen Schritten und auf leisen Sohlen vonstatten. Netzwerk ist Science Fiction nicht im Sinne eines Zukunftsromans, in dem eine uns mehr oder weniger unbekannte Welt entwickelt wird. Die beiden Handlungsorte sind Schuyler in New York und Toronto in Kanada. Die Handlungszeit entspricht unserer Gegenwart, es gibt Heim-PCs, man arbeitet mit Java Script und CSS, im Fernsehen läuft SpongeBob, man liest das Wall Street Journal, auf einer Demonstration wird Tränengas eingesetzt.

Adam Fisk ist der Ich-Erzähler, der zeitlich hinter ihm liegende Ereignisse wiedergibt. Man muss akzeptieren, dass Adam aus irgendwelchen Gründen hervorragend mit den rund zwei Dutzend Mitgliedern seiner Tau-Affinität harmoniert. Bei seinem ersten Besuch fließt er gleichsam in den Tau-Organismus hinein. Durch etwas, das Tau-Telepathie genannt wird, aber keine Telepathie ist, verbinden sich die Gruppenmitglieder.

Da Adam der Erzähler ist, erfahren wir über seine Affinität viel mehr als über die irgendwann zum Gegner werdende Het-Affinität und andere Gruppen. Während Tau einen Umgang ohne Hierarchie pflegt, ist Het streng organisiert und verfügt über eine klare Befehlskette. Es gibt fünf große und siebzehn kleine Affinitäten. Nur sechzig Prozent der Bewerber bei InterAlia werden einer Affinität zugewiesen, aber aufgrund wachsenden Interesses nimmt die Zahl der Mitglieder im Zeitverlauf zu. Der zurückgezogen lebende Meir Klein, zentraler Akteur in der Entwicklung der Algorithmen, durch die InterAlia und die Affinitäten möglich wurden, vermittelt wichtige Informationen: die Affinitäten sollten alle gleichwertig sein, keine Binnenhierarchie aufweisen, lediglich sozial aktiv sein, Websites betreiben. Damian Levay, informeller Kopf der Tau-Affinität, strebt die Loslösung von InterAlia an.

In für Wilson typischer Weise lernen wir die Charaktere besser kennen, ihr Privatleben, ihre Probleme, die Beziehungen zwischen den Personen. Adams Vater ist ein grober Rassist und Materialist; Jenny Symanski ist Adams Freundin aus Kindertagen, mit der er als Teenager Sex hatte und die seitdem auf ihn wartet, bis sie schließlich seinen Bruder Aaron heiratet, den Mann mit der dunklen Seite; sein Stiefbruder Geddy ist ein Außenseiter, mit dem er immerhin zurecht kommt; seine Stiefmutter, Mama Laura, spielt erst spät im Buch eine kurze aber wichtige Rolle.

Im ersten Teil des Romans, "Ein Haus in einer Winternacht", kommt Adam zu InterAlia und zur Tau-Affinität, Setting und Figuren werden etabliert. Im zweiten Teil, der sieben Jahre nach den Ereignissen im ersten Teil spielt und einen Handlungszeitraum von einem Jahr umfasst, geht es um "Die Menschheitsformel", eine von InterAlia entwickelte Vorstellung, die sich an die aus der Physik bekannte Weltformel anlehnt. Die Affinität ist als TauBourse zum ersten börsennotierten Unternehmen der Affinitäten geworden. Tau ermöglicht schon bald anderen Affinitäten den Zugang zu TauBourse. InterAlia klagt, weil sie die Rechte an den gesamten Affinitäten-Konstrukten hat und Tau Gewinne macht. Der “Clan” Tau hat fast sieben Millionen “loyale Brüder und Schwestern” und sich zu einem Machtfaktor entwickelt.

Im dritten und letzten Teil schließlich, "Krieg der Affinitäten", der weitgehend in Schuyler, New York, spielt, gewinnt Adams Familie an Bedeutung. Im Epilog erfahren wir, was aus Adam geworden ist. Zu Beginn eines Teils lesen wir Auszüge aus Zeitschriften, Print wie Online, mit Äußerungen über gesellschaftliche Wirkungen und die Wahrnehmung von Affinitäten. So erhalten wir ein paar Hintergrundinformationen, die nicht von Adam stammen.

Die Geschichte wird spannend erzählt. Aber die Hintergründe bleiben vage, es wird so gut wie nichts erklärt. Weder die Tests, die die Kompatibilität bestimmen, noch das Konzept der Teleodynamik im spezifischen Anwendungszusammenhang, noch die Unterschiede zwischen den Affinitäten sind nachvollziehbar. Man erfährt wenig mehr, als dass nach der Bestimmung des Genoms nun auch die Bestimmung eines Sozionoms möglich ist. Die Daten sind nur InterAlia zugänglich, die Rechte daran treten die Kandidaten an das Unternehmen ab.

Die Umsetzung der guten Idee erfolgt ohne Tiefgang. Der gesellschaftspolitische Aspekt geht in der Erzählung beinahe verloren, der technologische spielt keine Rolle. An einer Stelle erfolgt eine Absetzung der Affinitäten von heute bekannten weltweit operierenden Sekten, aber plausibel wird diese nicht, da sowohl InterAlia wie auch das Konzept der Affinitäten obskur sind. Gleichwohl stellt Wilson Fragen und thematisiert Probleme, die die Lektüre trotz aller Kritik nicht langweilig werden lassen.

Am interessantesten ist die Entwicklung Adams, der Einblick, den er als rückschauender Erzähler über die Wirkung der Affinitäten auf sein Leben gibt. Die Mitgliedschaft in einer Affinität ist identitätsbestimmend und beansprucht nahezu vollständig, was mit einer Loslösung aus anderen sozialen Beziehungen einhergeht. Man befindet sich in einer Art Superorganismus mit weitgehender Interessenangleichung, die zur im Wesentlichen vereinten Zielverfolgung führt. Dies jedoch für sich, soll heißen, die Affinität, nicht hingegen für eine Führungselite, wie in Sekten.


Fazit

Robert Charles Wilson spielt in seinem neuen Roman, Netzwerk, mit der Idee einer Weiterentwicklung sozialer Netzwerke zu Superorganismen im Bestreben, eine bessere Welt zu schaffen. Die Geschichte ist unterhaltsam erzählt, die Figuren und ihre Beziehungen sind interessant, aber das, worum es erklärter Maßen geht, wird nur als Skelett geliefert.


Pro und Kontra

+ dramaturgisch gut erzählte Geschichte
+ der Weg in eine bessere Welt führt zu anderen Qualitäten zwischenmenschlicher Gewaltlösungen

- wichtige Konzepte werden zu oberflächlich präsentiert

Wertung:sterne3

Handlung: 3/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 3/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu Darwinia

Rezension zu Julian Comstock

Rezension zu Vortex