Munin oder Chaos im Kopf (Monika Maron)

maron munin

S. Fischer Verlag, 2018
Gebunden, 222 Seiten
€ 20,00 [D] | € 20,60 [A] | CHF 29,90
ISBN 978-3-10-048840-4

Genre: Belletristik


Rezension

Mina Wolf bekommt das Angebot, zur Tausendjahrfeier einer Kleinstadt in Westfalen für ein hohes Honorar einen Beitrag über den dreißigjährigen Krieg zu schreiben. Die Honorarhöhe verhält sich umgekehrt proportional zu Minas Sachkenntnis, weshalb sie zusagt. Es ist einfacher, sich in etwas einzulesen, als eine finanziell vergleichbare Alternative zu finden.

Der Sommer ist schön, Arbeitsanreize setzt er nicht, aber Mina begibt sich auf die Suche nach einem Zugang zum Thema, macht sich Gedanken über Verbindungen zwischen Vergangenheit und Heute. Auf einem Nachbarbalkon nutzt eine höchst unbegabte Sängerin die schönen Tage, Opernarien und Lieder aus Operetten darzubieten. Präsentiert sie sich anfangs noch alleine, lässt sie bald schon die Aufnahmen großer Sängerinnen mitlaufen. Anwohner protestieren, die Unbegabte tönt umso intensiver vor sich hin.

Heute gilt mehr denn je, was Niklas Luhmann gleich in den ersten Sätzen seines Buchs Die Realität der Massenmedien schreibt: was wir über die Welt wissen, erfahren wir durch die Massenmedien, über die wir wiederum so viel wissen, dass wir ihnen nicht trauen können. Die Nachrichten, die sich zu konzentrieren scheinen auf die schlimmsten Ereignisse des Tages, sind für die Nerven Minas so etwas wie ein Fronttheater. Die Welt wird wahrgenommen als ein Ort des Grauens, bestimmt durch kaum mehr zählbare Kriege und Terroranschläge, Klimawandel, die Konfrontation der Kulturen und Religionen, die Entwicklung der Weltbevölkerung. Schließlich belasten Mina die vielen Geschlechter, deren wachsende Anzahl bei gleichzeitigem Nichtwissen über die inhaltliche Begriffsauffüllung.

Mina versucht mit alledem einigermaßen zurande zu kommen, verlegt aus pragmatischen Gründen ihre Arbeit vom Tag in die Nacht. Sie erhofft sich davon die Möglichkeit, besser arbeiten zu können, soll vor allem heißen: Ruhe zum Denken zu haben. Dies führt sie bald in Momente der Einsamkeit, verstärkt durch die nächtliche Stille. Ihre gedanklichen Nachtfahrten führen dazu, dass sie beunruhigende Verbindungen herstellt, Realitäten, die als Bausteine für Weltkonstruktionen von den Medien geliefert werden, mit ihren unmittelbaren Umweltwahrnehmungen verknüpft.

Sie konstruiert sich ein Modell der Wirklichkeit, das zur Wirklichkeitsbeschreibung verallgemeinert wird. Die einzige Möglichkeit, ein solches Modell aufzugeben, besteht darin, es durch ein erklärungsbesseres zu ersetzen. Aber ein solches Modell ist nicht in Sicht. Politisches Denken und Realitätsverlust auf der einen, ein Hang zum Autoritären auf der anderen Seite verhindern dies.

In der biblischen Apokalypse könnte ein durchgeführtes Upgrade auf die Gegenwart zu der Überlegung führen, die heute beobachtbaren dunklen Großereignisse seien Vorboten von etwas viel Schlimmerem. Und so denkt Mina denn auch bald. Sie mit einem seltsamen Begriff wie Wutbürgerin zu beschreiben, dies griffe arg zu kurz. Sie ist eine intelligente Frau, die eben diese Zeichen, oder Informationen, die an sie als wichtige Nachrichten herangetragen werden, zu verarbeiten und zu verstehen sucht.

Irgendwann begegnet ihr auf dem Balkon eine einbeinige Krähe. Mina nennt das Tier Munin, nach Odins Raben aus der nordischen Mythologie: Munin ist der Rabe der Erinnerung, Hugin der des Denkens. Beide durchfliegen die Welt, sammeln Informationen und überbringen sie Odin. Und so verbringen die Denkerin Mina und der geflügelte Beauftragte für Erinnerungskultur Nächte im Gespräch miteinander. Das Gespräch, eine Kulturtechnik im Verschwinden.

Während Mina daran arbeitet, etwas über die Vergangenheit zu erfahren und die Gegenwart zu verstehen, wird ein anderes Modell unserer Wirklichkeit auf der Straße vor Minas Wohnung entwickelt. In der Auseinandersetzung mit der Sängerin bilden sich zwei Konfliktparteien heraus, das übliche Vorgehen, dem gemäß jemand eine Position vertritt, ein anderer eine Gegenposition einnimmt, später dann weitere Anwohner sich zuordnen. Die Zornbanker wollen die Sängerin umsiedeln. Deren Gegner buchen ertragssteigernd in ihr Selbstbild-Portfolio ein, dass die Sängerin zu akzeptieren und Nazi sei, wer eine andere Sicht vertritt als sie.

Jedenfalls scheinen im Roman Alltagspositionen auf, die in realen Diskursen beobachtbar sind. Die Frage, ob die Sängerin in dieser Dynamik nur Anlass ist, oder ob sie tatsächlich auch ist, worum es im Weiteren geht, wird aufgeworfen und vom Audifahrer und Medienmenschen beantwortet. Er wirft der Gegenseite vor, die Sängerin nur zu benutzen, um zielloser Wut Ausdruck zu verleihen, sagt, weitaus schlimmer als strapaziöse Nachbarschaften seien Atomkraftwerke und Einflugschneisen von Flughäfen. Wahrscheinlich ist er ein aufmerksamer Beobachter politischen Geschehens und weiß deshalb, dass angebliche Ziele oft genug Instrumente zur Erreichung verdeckter Ziele sind. Als schließlich zwei Männer südländischen Aussehens eine Frau mit Hund überfallen, eskaliert die Situation. Deutsche Fahnen hängen aus den Fenstern, deutsche Volkslieder werden gesungen.

Mina beobachtet eher als dass sie sich einmischen würde. Nicht einmal, als es zur Frontenbildung kommt, bezieht sie eine Position. Was wiederum Vertreter der Konfliktparteien nicht daran hindert, sie der jeweils anderen Gruppe zuzuordnen, weil sie sich nicht zu ihnen bekennt. Diese schon als Hindernis begreifliche Binärcodierung menschlichen Denkens, eine der krassesten Formen der Reduktion von Komplexität, ist nur ein Element des Romans, in dem sich unsere Gegenwart spiegelt. Munin äußert einmal den Gedanken, der Mensch der Gegenwart suche nur noch Gott, wenn er in den Spiegel schaut.

Maron zitiert in ihrem Essay Krähengekrächz, einem Komplementärtext zu Munin oder Chaos im Kopf, eine Figur aus Philip Roths Der menschliche Makel: „Stell dir mal vor, die Krähen hätten das Sagen. Wäre das Leben dann genauso beschissen wie jetzt?“. Erinnert man sich während der Lektüre von Munin oder Chaos im Kopf daran, fragt man sich vielleicht: Wäre das Leben nicht noch viel weniger beschissen, wollte nicht immer irgendwer das Sagen haben?

Am Ende zeigt sich, welchen Belastungen Mina ausgesetzt war und wer Munin ist. Natürlich kann man sich fragen, ob der für den Gedanken stehende Hugin sich für den Dialog mit Munin in einer satirisch-amüsanten Volte nicht in Monika Maron verwandelt hat.


Fazit

Monika Maron liefert in Munin oder Chaos im Kopf eine Art Bestandsaufnahme der deutschen Gegenwart. Bestimmt ist diese durch zwei verschränkte Erfahrungsebenen: die Massenmedien und die unmittelbare Wohnumgebung der Protagonistin. Ein anspielungsreiches und komplexes literarisches Werk, in dem mehr oder weniger diffuse Modelle von Wirklichkeit aufeinandertreffen.


Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


Rezension zu Zwischenspiel