Die Spiegel von Kettlewood Hall (Maja Ilisch)

Droemer Knaur (April 2018)
Taschenbuch
448 Seiten, 9,99 EUR
ISBN: 978-3-426-52078-9

Genre: Historische Fantasy


Klappentext

England 1886: Kettlewood Hall. Mehr als den Namen kennt Iris nicht. Ihre Mutter verliert kein Wort über das Herrenhaus, in dem sie früher als Dienstmädchen gearbeitet hat. Doch al Iris nach dem Tod ihrer Mutter eine kostbare alte Schachfigur findet, ahnt sie, woher diese stammt. Iris träumt von einem besseren Leben als dem einer Fabrikarbeiterin, und diese Figur ist der Schlüssel dazu – und zu dem Geheimnis ihrer eigenen Herkunft. Nur mit ihrer Hoffnung und der Schachfigur im Gepäck macht Iris sich auf den Weg nach Kettlewood. Doch seltsame Dinge gehen im Haus vor, und hinter den Spiegeln scheint etwas zu leben. Was verschweigen die Kettlewoods? Bevor sie weiß, wie ihr geschieht, ist Iris Teil eines Spiels um Leben, Tod – und Liebe.


Rezension

„Die Spiegel von Kettlewood Hall“ beginnt trostlos: Der Alltag der vierzehnjährigen Waise Iris Barling besteht aus harter Arbeit in einer Baumwollspinnerei, aus den Vorwürfen einer Großmutter, die ihr ihre bloße Existenz verübelt, aus der ständigen Sorge um Geld und Menschen, die ihre verzweifelte Situation ausnutzen wollen. Eines Tages fällt Iris der einzige wertvolle Besitz ihrer Mutter in die Hände: Ein schwarzer Springer. Das bringt sie auch dazu, sich an all die seltsamen Verhaltensweisen zu erinnern, die darauf hindeuten, dass ihre Mutter in Kettlewood Hall Schlimmeres erlebt hat, als bloß ihre Stellung zu verlieren.

Iris‘ Lehrer Mr. Whitham vollzieht eine erstaunliche Kehrtwende von ausgebrannt und desinteressiert zu hilfsbereit (es ist nicht ganz klar, was genau an Iris diese Rückkehr zu seinem idealistischen, früheren Ich auslöst, da sie gerade am Anfang nach außen hin wie eine sehr gewöhnliche, demütige, ständig erschöpfte Fabrikarbeiterin wirkt). Er erklärt ihr, was es mit dem Springer auf sich hat, bringt ihr Schach bei und stellt für sie Nachforschungen an. Schließlich bietet er sogar an, sie nach Kettlewood Hall zu begleiten. Iris hofft auf einen großzügigen Finderlohn für die wertvolle Schachfigur.

Als sich Iris von ihrer Großmutter, die sie bei jeder Gelegenheit heruntermacht, und der bedrückenden Armut und Hoffnungslosigkeit ihres Alltags verabschiedet, ist das ein Moment des Triumphs, den zu lesen guttut. Es ist der erste von vielen Momenten, in denen Iris sich in der Welt zu behaupten beginnt und anfängt, der Welt ihren Mut, ihre Entschlossenheit und ihren Stolz zu zeigen. In Kettlewood Hall zeigt sich, dass sie auch wissbegierig ist, eine schnelle Auffassungsgabe hat, und anderen Menschen, auch wenn sie sich von ihnen nichts bieten lässt, mit Mitgefühl begegnet. Sie ist also eine sympathische Protagonistin, die aus den Herausforderungen, denen sie sich stellt, immer stärker und unabhängiger hervorgeht.

In Kettlewood Hall erlebt sie einen verwirrenden Empfang. Sie trifft die Angehörigen der Familien der Aubreys und der Reynards, Menschen, deren widersprüchliches Verhalten, Lügen und Auslassungen ihr bald das Gefühl geben, dass sie niemandem trauen kann. Iris erfährt hier auch mehr über ihre eigene Vergangenheit und Herkunft, obwohl ihre Gastgeber auch hier falsche Fährten legen. Für alle Bewohner des Hauses steht fest, dass sie bleiben muss, und ohne zu wissen, was sie tut, vollführt Iris eine Handlung, die sie zum Teil eines jahrhundertealten Spiels macht, von dessen Existenz und Regeln sie nur allmählich, oft zu spät, erfährt.

Nach und nach findet sie heraus, was es mit Kettlewood Hall, den Schatten in den Spiegeln und dem alten Schachspiel in der Bibliothek auf sich hat, und wieso die Aubreys und Reynards sie mit Lügen zu manipulieren versuchen oder ihr zumindest Teile der Wahrheit verschweigen. Viele Figuren haben ihre ganz eigenen Absichten neben dem Vorhaben, einem Fluch zu entkommen, von dem nur Iris sie erlösen kann. Schließlich begreift Iris, welche Macht sie hat, welche Verantwortung – und was für sie selbst auf dem Spiel steht, falls sie scheitert.

Tatsächlich sind die Einsätze aber nicht so hoch, wie sie sein könnten: Für viele Figuren geht es nicht wirklich um Leben und Tod, wie man am Anfang annehmen könnte, und die Aussicht darauf, was mit ihrer Seele passieren kann, ist für Iris nur erschreckend, weil sie gläubige Christin ist. „Die Spiegel von Kettlewood Hall“ ist aber auch die Geschichte von ihrer ersten Liebe und sie spielt um ein Leben an der Seite des Mannes, den sie liebt, wie sich später herausstellt gegen einen Gegenspieler, dem sie starke, komplexe Gefühle entgegenbringt. Ich hatte mir dennoch die Atmosphäre in Kettlewood Hall unheimlicher, die Konsequenzen für alle Beteiligten bedrohlicher vorgestellt, da das Elend in den ersten Kapiteln, Iris‘ Albträume, die offensichtliche Angst ihrer Mutter und eine eher unheimliche Szene nach ihrer Ankunft in Kettlewood Hall der Auftakt für ein düstereres Buch zu sein scheinen.

Einige Bewohner von Kettlewood Hall haben klare Motive und klare eigene, differenzierte Persönlichkeiten, aber von anderen wiederum bekommt man nur einige wenige Charakterzüge mit oder weiß nicht so ganz, was sie motiviert. Obwohl viele Nebenfiguren solide geschrieben sind und es interessante Enthüllungen über sie gibt, sind das Interesse oder die Zuneigung, die sie wecken, von eher mittlerer Intensität. Ihre Vorwürfe, Reibereien (sie hocken seit Jahrzehnten aufeinander) und Geheimnisse machen einen Großteil des Plots aus, den wir aus der Perspektive von Ich-Erzählerin Iris‘ erleben. „Die Spiegel von Kettlewood Hall“ ist kein Buch, das einen auf der Stuhlkante sitzend auf den Nägeln kauen lässt, aber die Handlung schreitet stetig voran und die Sprache liest sich angenehm.


Fazit

„Die Spiegel von Kettlewood Hall“ ist ein eher ruhiger Roman um Geheimnisse, einen Fluch und die erste Liebe. Das Buch ist vielleicht nicht ganz so spannend und atmosphärisch, wie ich es mir zunächst vorgestellt habe, aber liest sich sehr angenehm. Es basiert auf einer originellen Grundidee, über die ich in dieser Rezension aus Spoilergründen leider nur wenig verraten konnte, und hat eine Protagonistin, die eine sehr befriedigende Entwicklung durchläuft. 


Pro und Contra

+ spannende Grundidee
+ viele Geheimnisse und offene Fragen
+ sich entwickelnde Protagonistin
+ angenehm lesbare Sprache

- Ilisch scheint ein wenig davor zurückzuscheuen, bestimmten Handlungen schwerwiegende Konsequenzen zu geben
- nicht alle wichtigen Figuren sind gleichermaßen differenziert und scheinen auch nicht immer nachvollziehbar und konsistent motiviert

Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 3,5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3,5/5


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