Unter der Mitternachtssonne (Keigo Higashino)

higashino mitternachtssonne

Tropen Verlag 2018
Originaltitel: Byakuyakō (1999)
Aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe
Gebunden, 720 Seiten
€ 25,00 [D] | € 25,80 [A] | CHF 37,90
ISBN 978-3-608-50348-7

Genre: Kriminalroman


Rezension

Yosuke Kirihara, Besitzer eines Pfandhauses, wird erstochen. Kommissar Junzo Sasagaki bearbeitet den Fall, in dem die Ehefrau des Opfers, Yaeko, und der Geschäftsführer Isamu Matsuura die ersten Tatverdächtigen sind. Unter Verdacht geraten auch Tadao Terasaki und Fumiyo Nishimoto. Yaekos Liebhaber Terasaki findet bei einem Verkehrsunfall den Tod. Nishimoto, die vielleicht eine Affäre mit Kirihara hatte, kommt in ihrer Wohnung durch Gaseinwirkung ums Leben. Nicht geklärt werden kann, ob es sich um einen Unfall handelt.

Sasagaki muss den Fall bald als ungelöst zu den Akten legen, arbeitet aber nebenher weiter daran. In den folgenden Jahren stehen Kiriharas Sohn Ryo und Nishimotos Tochter Yukiho im Zentrum der Handlung. Ryo und seine beiden Freunde machen Geld als Liebhaber von Frauen in den dreißiger Jahren. Das Geschäft läuft gut, bis eine Kundin während eines Geschlechtsaktes stirbt. Ryo wendet sich einer neuen Tätigkeit zu. Der Markt für Computerspiele scheint ihm geeignet, genauer: der illegale Handel mit Piraterieprodukten. Auch als Kreditkartenbetrüger und Hacker ist er aktiv. Er ist so erfolgreich, dass er irgendwann der Yakuza auffällt.

Nach dem Tod ihrer Mutter wird Yukiho von einer Verwandten aufgenommen, Reiko Karasawa, die das Kind auf eine Privatschule mit angeschlossener Universität schickt. Yukiho sieht hervorragend aus, ist an ihrer Schule das Gesprächsthema und kann Schüler für ihre Zwecke instrumentalisieren. Gerüchte über die Affäre ihrer Mutter überdauern die Jahre. Aber niemand wagt es, Yukiho darauf direkt anzusprechen. Sie verdient später viel Geld an der Börse, heiratet den Unternehmer Makoto und macht eine Boutique auf. Ihr Schicksal wird mit dem Ryos verknüpft durch etwas, was Sasagaki als Schlüssel zur Lösung seines Falls dient.

Unter der Mitternachtssonne wurde als eine Reihe inhaltlich verbundener Kurzgeschichten von Januar 1997 bis Januar 1999 in der Monatszeitschrift Subaru erstveröffentlicht. Higashino überarbeitete diese für den Roman, der im August 1999 erschien. In 2006 wurde eine japanische Fernsehfassung produziert, 2009 ein koreanischer und 2010 ein japanischer Langspielfilm.

Die Geschichte beginnt im Jahr 1973 in Osaka. Higashino macht nahezu keine Jahresangaben, nur wenige Details helfen, die ungefähre Zeit zu bestimmen, darunter die erste Ölkrise, zeitgenössische Computermodelle, die kürzlich beendete Mangaserie Ashita no Joe (1968-1973), der Kinostart des Hollywood-Blockbusters "Rocky" (1976) und das "Gundam"-Franchise (seit 1979), oder, für nicht-japanische Leser eher schwierig bis gar nicht einzuordnen, nationale Sportereignisse. Higashino beschreibt das Japan des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Wir erfahren viel über Videospiele, Fernsehen, Mangas und andere popkulturelle Phänomene.

Ökonomische Krisen markieren den ungefähren Anfangs- und Endpunkt der Romanhandlung. Die erste Ölkrise in 1973 verursachte aufgrund der Abhängigkeit von Ölimporten aus den Golfstaaten einen starken Konjunktureinbruch. Nach dem Plaza-Abkommen 1985 erlebte Japan massive Importe spekulativen Kapitals und ging den Weg in die bekannte Bubble Economy, die sich auszeichnete durch steigende Erwartungen an Spekulationsgewinne, die wiederum dazu führten, dass Immobilien auf dem heimischen Markt beliehen wurden und das Geld in Aktien investiert wurde. In den 1990ern platzte die Blase, Immobilienpreise fielen um drei Viertel, Immobilien wurden wertlos, Aktienmärkte stürzten ab, Banken saßen auf faulen Krediten…

Die ökonomischen Probleme sind jedoch nicht nur zeitliche Marker, sondern beschreiben die gesellschaftliche Topografie. Das Leben der Figuren ist bestimmt durch Frustration, Traurigkeit und Gewalt. Sie führen ein Leben, das nicht im hellen Tageslicht stattfindet, sondern in der Dunkelheit der Mitternachtssonne. Über die Jahre scheint der Mordfall Kirihara immer wieder mal auf, während Sasagaki und andere Figuren vorübergehend aus der Handlung verschwinden. Als Makotos wohlhabender Freund Kazunari den Privatdetektiv Naomitsu Imaeda beauftragt, Yukiho zu überwachen, weil er gegen sie einen Verdacht hat, kommt Sasagaki, nun älter und trauriger, zurück in die Erzählung. Kiriharas Angestellter Isamu Matsuura taucht erst auf den letzten Seiten wieder auf.

Interessant ist, wie, in Ermangelung von Indizien und Beweisen, Geschichten und Gerüchte dazu verwendet werden, ein Konstrukt von Mutmaßungen zu bilden, welches dazu beiträgt, offene Fragen im Mordfall Kirihara zu klären. Im Fortgang der Erzählung folgen wir den unterschiedlichen Entwicklungspfaden Ryos und Yukihos durch die 1970er Jahre bis ins Erwachsenenalter. Es verstärkt sich der dunkle Charakter der Geschichte, die rätselhafte Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau. Beide ähneln einander und benutzen ihre Mitmenschen nur zur Erreichung ihrer Ziele. Freundschaften gibt es nicht, nur Verbindungen auf Zeit, solange eine Person gebraucht wird. Ryo und Yukiho werden über ihre Augen und deren Beschreibung als düstere Figuren mit psychischen Problemen beschrieben. Yukihos beste Freundin, Eriko, spricht einmal von Dornen in Yukihos Augen. Mal wird Yukiho als mit katzenartigen Augen versehen beschrieben, an anderen Stellen mit Blumen verglichen.

Während der Lektüre bekommt man den Eindruck, dass der Mordfall sekundären Charakter hat und in erster Linie dazu dient, andere Geschichten zu erzählen. Geschichten über Menschen, deren Lebenswege sich schneiden und wechselseitig beeinflussen. Die Beziehung, in der Ryo und Yukiho zueinander stehen, interpretiert Sasagaki als der zwischen Grundel und Knallkrebs vergleichbar. Ryo und Yukiho haben eine nur schwache Bindung an soziale Gruppen oder gesellschaftliche Institutionen, sie versuchen nicht, einen Platz in der Gesellschaft zu erarbeiten, verhalten sich in extremer Weise frei von Verantwortungsgefühlen.

Keigo Higashino hat eine wirkungsvolle Geschichte konstruiert, in der die Handlung den episodischen Charakter der Magazinpublikation beibehält, sie aber zu einem kohärenten Geflecht verdichtet. In jeder dieser Episoden werden neue Figuren eingeführt, wodurch ein stattliches Ensemble entsteht. Häufig arbeitet Higashino nach dem Prinzip, eine Handlung innerhalb einer Handlung innerhalb einer Handlung unterzubringen. Das liest sich sehr gut und hört sich mit Blick auf das Textverständnis schwieriger an, als es tatsächlich ist. Wichtige Handlungselemente werden an irgendeiner Stelle des Romans mit anderen verbunden, so dass ein diffiziles Gewebe einander kommentierender Segmente entsteht, die sich nach und nach zusammenfügen und am Ende alles in Klarheit erscheinen lassen.

Der Roman weist eine interkulturelle Dimension auf, ein Phänomen, das seit den 1990er Jahren in der japanischen Literatur stärker auffällt. Dadurch ist er für westliche Leser leichter zugänglich. Aufgrund der vielen Figuren ist der Handlung jedoch nicht immer leicht zu folgen. Da ist es hilfreich, dass dem Roman ein Lesezeichen beigefügt ist, auf dem die neunzehn wichtigsten Personen mit Kurzcharakterisierung aufgeführt sind.


Fazit

Keigo Higashinos Unter der Mitternachtssonne ist ein Mystery-Krimi mit einer sehr clever konstruierten vielschichtigen Erzählarchitektur, detailliert dargebotener Detektionsarbeit und interessanten Wendungen. Ein intellektuell ansprechender Roman, in dem es auf Details ankommt. Entwickelt wird die Biografie zweier Menschen, die einen dunklen Pfad beschreiten, und die Biografie eines Ermittlers, der zu einem traurigen Menschen wird.


Pro und Kontra

+ fein entwickelte Charaktere und emotionale Tiefe
+ hilfreiche Personalübersicht
+ Nebensächlichkeiten erweisen sich als verständnisnotwendig
+ starke Einbindung der Charaktere ins sozio-ökonomische Umfeld

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5