So sprach Achill (Alessandro Baricco)

baricco achill c

Hoffmann und Campe Verlag, 2018
Originaltitel: Omero, Iliade (2004)
Aus dem Italienischen übersetzt von Marianne Schneider
Gebunden, 192 Seiten
€ 15,00 [D] | € 15,50 [A] | CHF 15,90
ISBN 978-3-455-40579-8

Genre: Belletristik

(Die Schreibweise der Namen entspricht der im Roman.)


Rezension

Eris, die Göttin der Zwietracht, ist als Einzige nicht zur Hochzeit von Peleus und Thetis eingeladen. Sie wirft den Feiernden einen goldenen Apfel mit der Aufschrift "Für die Schönste" in den Saal. Der Zankapfel führt zum Streit zwischen Pallas Athene, Aphrodite und Hera. Zeus will in diese Auseinandersetzung nicht hineingezogen werden und wählt Paris aus, das Urteil zu fällen. Paris ist ein Sohn des Königs Priamos von Troia. Die Göttinnen versuchen Paris zu bestechen. Das Angebot Aphrodites gefällt ihm am besten: die Liebe der schönsten Frau auf Erden. Paris wählt Aphrodite und bekommt als Belohnung Helena. Hera schwört Paris und den Troern Feindschaft.

Helena ist jedoch mit Menelaos, dem König von Sparta, verheiratet. Paris begibt sich nach Sparta. Er missbraucht die Gastfreundschaft und entführt die schöne Helena nach Troia. Agamemnon, der Bruder des Menelaos, führt eine Gesandtschaft an, die Helena zurückfordert, jedoch abgewiesen wird. Unter dem Kommando Agamemnons macht sich eine riesige Streitmacht auf, die Herausgabe Helenas mit kriegerischen Mitteln durchzusetzen. Es kommt zu einer zehnjährigen Belagerung, an deren Ende das troianische Pferd und die Zerstörung Troias stehen. Damit wären der Ausgangspunkt, die Vorgeschichte und der Handlungsverlauf des Mythos skizziert.

Homers Ilias handelt von der Schlussphase des troianischen Krieges, den letzten 51 Tagen. Am Anfang kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Heerführer Agamemnon und dem besten Kämpfer der Belagerer, Achill. Agamemnon soll Chryses, einem Priester Apolls, dessen Tochter, die er als Beute beansprucht, für ein Lösegeld zurückgeben. Er missachtet Chryses, Apoll zürnt und überzieht das Lager der Griechen mit einer Seuche. Agamemnon gibt darauf Chryses die Tochter und nimmt sich als Ausgleich Achills Beute, die Sklavin Briseis.

Diese Handlung verursacht den Zorn Achills. Achill verweigert Agamemnon die Gefolgschaft im Kampf gegen die Troer, die unter Führung Hektors die Gelegenheit nutzen und, mit Unterstützung durch Zeus, die Belagerer in arge Bedrängnis bringen. Als Hektor Achills Freund Patroklos tötet, verdrängen die Verlust- und Rachegefühle den Zorn Achills, der im Zweikampf Hektor tötet und dessen Leiche schändet. Im Krieg gegen Troia bringt dies die entscheidende Wende. Die Erzählung geht ihrem Ende entgegen, als Achill Mitleid mit Hektors Vater Priamos empfindet und ihm den Leichnam seines Sohnes zur Bestattung übergibt.

Alessandro Baricco ist in Deutschland bekannt geworden durch insbesondere zwei seiner Bücher und deren filmische Adaption. Im Jahr 1994 schrieb er den Monolog Novecento (deutsch Novecento, 1999) für das Theater. Giuseppe Tornatore verfilmte ihn 1998 als La leggenda del pianista sull‘Oceano, und in deutschen Kinos lief er als Die Legende vom Ozeanpianisten. Bariccos wohl bekanntester Roman Seta (1996; deutsch Seide, 1997) wurde von Francois Girard 2007 für das Kino verfilmt (Silk, dt. Seide).

Im Original ist Bariccos Roman So Sprach Achill 2004 erschienen. Zwei Jahre später wurde die englische Übersetzung veröffentlicht und in das internationale Literaturprojekt The Myths, vom Verlag Canongate 2005 begonnen, aufgenommen. Die Grundidee des Projekts besteht darin, dass bekannte Autoren und Autorinnen mythologische Stoffe in kurzen Romanen für heutige LeserInnen attraktiv aufbereiten. Zentraler Gedanke ist dabei, den Mythos neu- oder nachzuerzählen. Dies impliziert eine Verbindung von Mythos und Literatur, die es ermöglicht, auch, wenigstens formal, den Mythos zu verändern.

So sprach Achill ist keine in Prosa und auf weniger als 200 Seiten verdichte Nacherzählung der Ilias, sondern eine sehr eigene Fassung, die sich in wesentlichen Details von Homers Vorlage unterscheidet. Die Produktion des Romans geht einher mit einer Mythenkorrektur, die sich für Baricco insbesondere manifestiert in der Streichung aller Auftritte der Götter. Gleichwohl gibt es einige Bezugnahmen auf Götter und deren Handeln. Weiter betont Baricco die weiblichen Perspektiven und äußert eine Haltung zu Gewalt und Heldentum.

Bariccos Text wurde im Herbst 2004 in Rom und Turin öffentlich vorgelesen. Die römische Aufführung wurde im Radio live übertragen. Baricco hat den Textumfang aus der Anforderung an den Vortrag abgeleitet. Ausgehend vom Originaltext, einer italienischen Übersetzung der Ilias durch M. G. Ciani, schuf er knappe Textsequenzen und beseitigte "alle archaischen Ecken und Kanten". In seiner Vorbemerkung zum Roman begründet er dies. Baricco hat Homers Text arg verschlankt und eine menschliche Geschichte destilliert.

Zudem hat er die Erzählperspektive verändert. Er ersetzt in 17 Kapiteln den allwissenden Erzähler durch 22 Ich-ErzählerInnen, darunter einen Fluss. Auf Seiten der Belagerer sind dies König Agamemnon, Odysseus, Achill und weitere, auf Seiten der Belagerten König Priamos, sein Sohn Hektor, dessen Frau Andromache und weitere. Insofern ist der deutsche Titel So sprach Achill irreführend. Paris, das erste menschliche Glied in der Ursache-Wirkungs-Kette der Geschehnisse, gehört nicht zu den Erzählern, taucht aber in einzelnen Berichten auf.

In der Tradition der Oral History, einer Methode der Geschichtswissenschaften, die auf Berichten von Zeitzeugen basiert, erzählen verschiedene Personen von den Ereignissen, hier: der Schlussphase der Belagerung Troias durch die Achäer und ihre Verbündeten. Allerdings handelt es sich nicht um Überlebende, sondern die Beiträge werden gleichsam aus den Gräbern heraus gesprochen, oder aus dem Reich der Toten. So beschreibt Pandaros die letzten Augenblicke seines Lebens und seinen brutalen Tod. Die Amme spricht über Andromaches Ängste und über Hektor, der sie einfach beiseite wischt, der Fluss über den blutigen Kampf zwischen Achill und Aeneas und das in ihn hineinfließende Blut, das er mitsamt den Toten ins Meer tragen soll. Der Sänger Demodokos erzählt die Geschichte vom troianischen Pferd und der Zerstörung der Stadt. Die einzelnen Erzählungen fügen sich zu einer durch die Charaktere getriebenen großen Schlachtenbeschreibung.

Der Text ist selbstredend leichter zugänglich als die Vorlage, liest sich flüssiger und durch den Zugang intimer beziehungsweise persönlicher, eine Sammlung von Monologen. Die Erzählung erfolgt trotz der spezifischen Segmentierung chronologisch. Baricco hat die Wiederholungen gestrichen, die der Strukturierung der Ilias für den ursprünglich mündlichen Vortrag dienten. Er erzählt in Gegenwartssprache und verwendet keinerlei altertümliche Begriffe. Wo er den Text der Vorlage erweitert, geschieht dies, soweit es Einfügungen betrifft, in Kursivschreibung. Eine umfangreiche Erweiterung ist die Geschichte vom troianischen Pferd, die sich in der Odyssee, nicht der Ilias findet. Bezieht der Erzähler in der Ilias keine Position, so ist bei Baricco beispielsweise Helena das Opfer der Lust des Paris.

Baricco schreibt in seinem Vorwort, die Ilias sei eindeutig ein Monument des Krieges, in dem Helden geboren werden. Seine Modernisierung fügt der Erzählung eine zeitgemäße feministische Facette hinzu. Helenas außergewöhnliche Schönheit wird nicht thematisiert, etwas befremdlich angesichts ihrer Bedeutung für die Geschichte. Aber vielleicht schwingt sie ja ohnehin beim Lesen als bekannt mit. Die Monologe von Helena und Andromache beklagen die Torheit der Männer. Die Erzählung enthält Reflektionen. So denkt Nestor darüber nach, dass die jungen Menschen eine alte Vorstellung vom Krieg als mit Ehre, Schönheit und Ruhm verbunden haben, während die Alten nur gewinnen wollen.


Fazit

Alessandro Baricco legt mit So sprach Achill eine lesenswerte Neuerzählung der Ilias von Homer vor, ohne direkte Einflussnahme der Götter, als menschliche Geschichte über Liebe, Rache, Gier, die Formenvielfalt psychischer und physischer Verletzungen, bis hin zu einem kraftvollen Monolog der Natur, in Gestalt eines Flusses, über den Menschen und dessen Liebe zu jeglicher Form von Gewalt. So lange aktuell, wie es Kriege gibt.


Pro und Kontra

+ kompakt und spannend erzählt
+ bereinigt um Archaismen in der Sprache
+ zwei instruktive Rahmentexte Bariccos
+ subjektive Narrative mit Reflektionsebene

Wertung: sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5