DuMont (April 2018)
Hardcover
320 Seiten, 20,00€
ISBN: 978-3832198398
Genre: Belletristik
Klappentext
Von der unbedingten Anwesenheitspflicht im eigenen Leben
Immer, wenn der alten Selma im Traum ein Okapi erscheint, stirbt am nächsten Tag jemand im Dorf. Wen es treffen wird, ist allerdings unklar. Davon, was die Bewohner in den folgenden Stunden fürchten , was sie blindlings wagen, gestehen oder verschwinden lassen, handelt dieser Roman. Vor allem aber erzählt er von Menschen, die alle auf ihre Weise mit der Liebe ringen: gegen Widerstände, Zeitverschiebung und Unwägbarkeiten – ohne jemals den Mut zu verlieren.
Rezension
„Was man von hier aus sehen kann“ spielt in Uhlheck irgendwo im Westerwald. Dort lebt die zehnjährige Ich-Erzählerin Luise, die den Großteil ihrer Freizeit mit ihrer Großmutter, Selma, und ihrem heimlichen Verehrer, den alle nur „den Optiker“ nennen, verbringt. Währenddessen sind Luises Eltern mit sich selbst und ihrer bröckelnden Ehe beschäftigt. Während ihre Mutter sich im familiären Blumenladen verkriecht, versucht ihr Vater mit einem Therapeuten seinen „eingekapselten Schmerz“ zu bewältigen, in dem er einen gigantischen (und scheinbar unsterblichen) Hund kauft. Luises Freund und Schulkamerad Martin ist meistens auch bei Selma anzutreffen, denn sein Vater – Witwer, Jäger und Dorfsäufer – sitzt zuhause und lässt sonst seine Wut an seinem Sohn aus. Der Alltag wird durchbrochen, als Selma vom Okapi träumt. Denn immer, wenn sie dem Okapi im Traum begegnet, stirbt jemand in den nächsten 24 Stunden
Mariana Leky zeichnet in ihrem (dritten) Roman eine überaus heile Welt, die einen mit ihrer Liebenswürdigkeit geradezu einlullt. Im positivsten Sinne. Denn wer wünschte sich nicht eine Kindheit, in der sich alle unterstützen und sich zur Seite stehen? Was nicht bedeutet, dass das Leben immer rosig ist. Menschen sterben, Ehen zerbrechen, Väter gehen auf endlose Reisen, um sich selbst zu finden, und Freunde werden vom Säufervater misshandelt. Besonders die letzten zwei Begebenheiten im Roman geben die Frage auf, ob es nicht eher eine Form der Verdrängung ist.
Vielleicht eine gute Frage, denn der Roman beginnt in einem Dorf 1983, vielleicht war (oder ist?) dort das Wegschauen Gang und Gebe. Spätestens aber mit der Liebesgeschichte zwischen der (erwachsenen) Luise und Frederik, der in Japan als buddhistischer Mönch lebt, muss man sich damit abfinden, dass manches ebenso unerklärlich und unwahrscheinlich ist wie das Okapi selbst.
Nur wenn man sich mit dieser Prämisse anfreunden kann, wird man sich an „Was man von hier aus sehen kann“ erfreuen können.
Dasselbe gilt für die Charaktere im Dorf. Sie sind allesamt überzogen liebenswert, aber eben doch liebenswert. Luise ist der Mittelpunkt, aber obwohl sie die Erzählerin ist, ist sie eher ein Katalysator für die anderen Dorfbewohner. Allen voran natürlich Selma, ihre Großmutter und das Dorforakel, die stets den Menschen zur Seite steht, wenn sie gebraucht wird. Der Optiker, der seine Liebe zu Selma einzig ihr allein verheimlichen kann, ist Luises Vaterersatz und versorgt alle mit Informationen zu zahllosen Themen. Elsbeth ist korpulent und abergläubisch und versorgt die Dorfbewohner mit allerlei Mittelchen, um ihnen den orakelten Tod vom Hals zu halten. Und Marlies, die immer mürrische, junge Frau, die sich mehr und mehr in ihrem Heim einschließt. Und ganz offensichtlich unter Depressionen leidet. Lediglich Frederik sticht negativ hervor. Zum einen hat er wenig Raum sich zu entfalten, zum anderen wirkt er schlicht am unwahrscheinlichsten. Was aber, wie Mariana Leky gerne erwähnt, das Okapi auch ist.
Viele Figuren sind es nicht, die im Buch eine Rolle spielen und sie sind auch nicht wirklich vielschichtig. Obwohl der Roman mehr als 20 Jahre abdeckt, entwickeln sie sich faktisch nicht weiter. Niemand will oder kann wirklich aus seiner Haut und irgendeinen Fortschritt vorweisen, als würde Mariana Leky sagen wollen, dass sich Menschen nie wirklich ändern. Tun sie vielleicht auch nicht. Aber auch ohne herausragende Charakterentwicklungen sind sie realistisch, sympathisch und wachsen einem an Herz.
Die Welt von „Was man von hier aus sehen kann“ ist unwirklich schön trotz der Unschönheiten des menschlichen Lebens. Es ist eine Welt, in der man sich wünschte, leben zu können, so unbedarft scheint sie auf den ersten Blick. All die Dorfbewohner haben ganz offensichtliche Probleme und doch sind sie irgendwie zufrieden und das alles nur, weil sie sich nie aufgeben und für einander da sind, egal was für Schicksalsschläge das Leben für sie parat hält. Vielleicht ist jene bedingungslose Freundschaft das Geheimnis von Uhlhecks Glückseligkeit. Andererseits kann man sich auch wirklich manchmal daran stören, dass niemand etwas unternimmt, bei all den Problemen, die jeden Zweiten betreffen. Verschließen alle nur die Augen vor der Wahrheit? Warum schaltet niemand die Behörden ein, um Martin zu helfen, wenn sein Vater ihn schlecht behandelt? Warum versucht niemand Marlies mit professioneller psychiatrischer Hilfe zu unterstützen? Sobald man zu viele Fragen stellt, fällt die Schönheit in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
Passend zu dem Für und Wider ist Mariana Lekys Schreibstil einfach mit einem Hang zu blumigen Beschreibungen. Sie bedient sich meist gelungener Metaphern, die eben jene unwirklich positive Atmosphäre kreieren. Außerdem beweist sie ein Händchen für gute Dialoge und Wortwitz. Gelegentlich gleitet ihre Sprache aber – analog zur Story – ins Kitschige ab. Besonders, wenn Luise von sich selbst und ihren Liebesgefühlen erzählt, anstatt der anderen Figuren, da kann es einen durchaus für eine Sekunde ins ARD-Vorabendprogramm Niveau verschlagen. Richtig übel nehmen will man dem Roman aber nichts. Leky konzentriert sich auf die schönen Dinge im Leben wie Freundschaft und Liebe, stellt ihnen Verlust und Schmerz entgegen und schafft es, dass einem das Schlechte gar nicht mehr so schlimm erscheint.
Fazit
Mariana Leky erzählt auf leichte und humorvolle Art vom Dorfleben im Westerwald. Die Figuren sind liebenswert und sympathisch, dass man sie sich als Teil der eigenen Familie wünscht, „Was man von hier aus sehen kann“ ist ein Gute-Laune-Heimatbuch, das sich perfekt für einen sonnigen Tag auf dem Balkon, am See oder Strand eignet. Lebensbejahend, feinfühlig und auch ein klein wenig kitschig.
Pro und Contra
+ schöne Sprache
+ sympathische Figuren
+ rührendes Ende
- ignoriert eigenartig die großen Probleme der Figuren
- kann kitschig sein
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5