Der Dschungel. Nach dem Roman von Upton Sinclair (Kristina Gehrmann)

gehrmann dschungel

Carlsen, 2018
Gebunden, 384 Seiten
€ 28,00 [D] | € 28,80 [A] | CHF 39,90
ISBN 978-3-551-71438-1

Genre: Graphic Novel, Comic


Rezension

Bis Mitte der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts war Chicago die Welthochburg der Fleischverarbeitung. Das herausragende Unternehmen in dieser Branche war die Union Stockyard & Transit Co., kurz: Stock Yards. Die hocheffiziente Fließbandproduktion von Fleisch nahm von hier ihren Weg der Verbreitung auf der Erde, Schlachthöfe wurden nach diesem Vorbild eingerichtet und weiterentwickelt. Die furchtbaren Arbeitsbedingungen in den Stock Yards führten 1904 zum Arbeitskampf. Streikbrecher hielten den Schlachtbetrieb am Laufen, während die Streikenden und ihre Familien tiefer in die Armut abrutschen.

Upton Sinclair (1878-1968) interviewte 1904 für die sozialistische Zeitschrift Appeal to Reason Arbeiter und deren Familien, Ärzte und Anwälte. Er führte eine umfassende Recherche auf den Schlachthöfen durch. Entstanden ist daraus 1905 eine Artikelreihe für Appeal to Reason, außerdem der Roman Der Dschungel, mit dem Sinclair 1906 schlagartig bekannt wurde. Der Roman, der den Ausgangspunkt für eine Gesetzesänderung bildete, behandelt insbesondere die Ausbeutung der Arbeiter, die Abwesenheit sozialer Schutzregeln und hygienische Missstände in den Stock Yards. Sinclair verbindet den skandalösen gesellschaftlichen Themenkomplex mit dem Schicksal einer litauischen Einwandererfamilie.

Kristina Gehrmann adaptierte den Roman für ihre Graphic Novel Der Dschungel. Nach dem Roman von Upton Sinclair. Stilistisch orientiert sich Gehrmann am Manga. Ausgehend von mit dem Bleistift gezeichneten Skizzen, aus denen der Gang der Handlung und wichtige Dialoge hervorgehen, erstellte sie am Computer die vollständige Rohfassung. Die folgende Überarbeitung in Text und Grafik richtete sich auch aus an historischem Material, von dem sich manches in der Rahmung der Doppelseiten mit den Kapitelangaben findet.

Die Graphic Novel beginnt damit, dass Ende des 19. Jahrhunderts Einwanderer aus Europa in den USA, Ellis Island, ankommen. Unter ihnen befindet sich Jurgis Rudkus mit seinen Angehörigen, insgesamt besteht die litauische Familie aus sechs Erwachsenen und vier Kindern. Schnell findet Jurgis Arbeit bei Durham, Amerikas größtem Hersteller von Fleischspezialitäten. Bald schon kaufen sie sich ein kleines Haus. Jedoch wurden sie hereingelegt, die Zinsen und die Versicherungskosten für die Immobilie sind erheblich höher als ihnen vorgerechnet wurde.

Nahezu die ganze Familie muss nun zum Haushaltseinkommen beitragen, damit sie das Haus nicht verliert und ihren finanziellen Verpflichtungen nachkommen kann. Einige Familienmitglieder arbeiten in den Schlachthöfen von Chicago. Der Vater wird ein Opfer der unmenschlichen Zustände. Die Fleischproduktion erfolgt unter hygienisch unerträglichen Bedingungen. Wer die Möglichkeit zur Selbstbereicherung durch Korruption hat, nutzt sie im Regelfall. Frauen werden zum Sex und in die Prostitution genötigt. Als Jurgis erfährt, was seiner Frau widerfuhr, verprügelt er den Verantwortlichen und kommt ins Gefängnis. Die Familie verliert ihr Haus. In dieser Situation scheint ihnen die Arbeiterbewegung einen Ausweg zu bieten.

Anders als die Graphic Novel beginnt Sinclairs Roman mit der Hochzeit von Jurgis und Ona. Sinclair nutzt die Hochzeit, litauische Traditionen nahezubringen, die die älteren Familienmitglieder in Chicago am Leben erhalten möchten, während die jüngeren Traditionen ablehnen. Kapitel 2 geht zurück in die Zeit bevor Jurgis und Ona sich in Litauen begegnen. In beiden Büchern erfolgt ein unmittelbarer Einstieg in die Handlung, nur eben an anderer Stelle.

Sinclair verwendet einen allwissenden Erzähler, gelegentlich die zweite Person Plural als Form direkter Anrede, um uns mit einem Charakter oder einer Situation direkt zu verbinden. Auch wechselt Sinclair in der Erzählung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Bei Gehrmann äußert sich die erzählerische Instanz in den Bildern, die Texte sind überwiegend Dialoge. Es gibt ein paar eingestreute Angaben zu Orten und Zeiten, aber keine Kommentierung der Handlung. Die Autorin arbeitet pointiert die wichtigen Handlungselemente des Romans heraus.

Während einer Betriebsführung werden die Spezialisierung auf einen Handgriff und die effiziente Akkordarbeit als die Zukunft der Arbeit gelobt. Im Schlachthof wird alle acht Minuten ein Rind verarbeitet, 250.000 Rinder in zehn Stunden. Anfangs ist Jurgis stolz, ein Teil des Systems zu sein, es als Einwanderer geschafft zu haben. Aber die Menschen in den Schlachthöfen machen sich den Rücken kaputt. Sie verlieren an den schnell laufenden Bändern durch den Einsatz von Messern Finger. In bestimmten Arbeitsbereichen bekommen sie Hautkrankheiten, werden lungenkrank und spucken Blut.

Die Arbeiter essen am Band und urinieren in die Ecken ihres Arbeitsplatzes, weil sie es sich nicht leisten können, es woanders zu machen, ohne ihren Job zu gefährden. Wenn keine Inspektoren mehr vor Ort sind, wird das Fleisch aussortierter, meist kranker Tiere verarbeitet. Die Einwanderer träumen den amerikanischen Traum und führen ein hartes Leben.

Der American Dream hat seinen Ursprung in der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. Ihm zur Folge können die Amerikaner sich eine eigene Verfassung und politische Ordnung geben sowie ungerechte Herrscher absetzen. Die Herrschaftselite der auf dem Konstrukt einer Leistungsgesellschaft aufbauenden Ordnung bestimmt sich über ihre besonderen Leistungen und Verdienste, mithin den sozialen Status. Der Traum besteht darin, dass ein jeder Mensch in den USA es über seine Leistungen schaffen kann, sich zur Elite hochzuarbeiten.

Hieraus erklärt sich ein Stück weit die Vorstellung, als Einwanderer in den USA den sozialen Aufstieg aus eigener Leistung bewerkstelligen zu können. Wenn man es nicht schafft, liegt es an einem selbst, weshalb Jurgis (im Roman wiederholt, im Comic einmal) sagt: "Dann werde ich eben noch mehr arbeiten". Als Arbeitskräfte werden die Einwanderer ökonomisch und gesundheitlich ausgebeutet. Weiter werden sie von den Geschäftsleuten übervorteilt und unternehmen nichts dagegen, weil sie um die Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft wissen.

Die schwächliche Ona hat ein Gegenstück in ihrer Cousine Marija, die über eine starke Persönlichkeit verfügt und Wert auf Äußeres und Formen legt. Der Ehemann und der Trauzeuge bekommen am Tag der Hochzeit nicht frei. Jurgis ist auf Anpassung, Assimilation aus. Obgleich er wieder und wieder die Erfahrung macht, dass dieser Ansatz in Verbindung mit einer Steigerung der Selbstausbeutung sinnlos ist.

Der Traum vom besseren Leben bedeutet für die Einwanderer auch den Besitz eines eigenen Hauses. Also schwatzt man den Armen Immobilien auf, die sie sich nicht leisten können. Die Verträge verstehen sie nicht, die Finanzierung geht aus von einer unrealistischen Fortschreibung der materiellen Entwicklung in die Zukunft. Bricht das arg fragile Finanzierungskonzept ein, wird man das Haus los, das investierte Geld ist als "Miete" weg. Nach der Renovierung wird das Haus als neu an die nächsten Träumer verkauft, die zu gerne die Lügen glauben, die ihnen aufgetischt werden.

Gehrmann zeigt in mehreren Handlungssegmenten sehr schön, wie dieser Selbstbetrug sich entwickelt und verfestigt. Man kann die Immobilienhändler nur schlagen, wenn man, wie eine Frau erzählt, die letzte Rate bezahlt. Für die Einwanderer, die ihren Traum nicht realisieren können, bleibt nur Leben im Dreck und Elend, Drogenabhängigkeit, Tod durch Ernährung und grausige Todesfälle in der Familie. Vieles davon kommt bei Sinclair im Roman vor, drastisch und grausam, während die Graphic Novel es ausspart.

Die Graphic Novel ist durchgehend in schwarzweiß gearbeitet. Beim Lesen und Betrachten stellt sich die Wahrnehmung ein, dass schwarzweiß die einzig sinnvolle Umsetzung ist. Vielleicht entscheidet das Auge, dass die Darstellung in Farbe nicht annähernd so gut aussehen und wirken würde.


Fazit

Die Graphic Novel Der Dschungel. Nach dem Roman von Upton Sinclair erzählt davon, dass die einen Menschen von einem besseren Leben träumen und sehr viel auf sich nehmen, dieses zu realisieren, während die anderen Menschen daran verdienen. Die Gesellschaft ist bestimmt durch Elemente organisierter Kriminalität. Wovon erzählt wird, ist noch lange kein historischer Ort.


Pro und Kontra

+ überzeugende Comic-Adaption des Klassikers
+ aktuelle Themen
o verglichen mit der Romanvorlage weniger hässlich dargestellte Wirklichkeit

Wertung:sterne4.5

Handlung: 5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5