Im Turm (Josiah Bancroft)

Heyne (September 2018)
Originaltitel: Senlin Ascends
Übersetzerin: Sabine Thiele
Taschenbuch
448 Seiten, 14,99 EUR
ISBN: 978-3-453-31950-9

Genre: Fantasy


Klappentext

Der Turm von Babel ist das gewaltigste Bauwerk, das jemals geschaffen wurde. Er ragt so hoch in die Wolken, das niemand weiß, wo er endet, und in seinem Inneren gibt es ganze Königreiche und unzählige Labyrinthe voller rätselhafter Wesen und tödlicher Gefahren.

Eigentlich wollte der Dorfschullehrer Thomas Senlin nur einen kurzen Blick auf dieses Weltwunder werfen. Doch dann verschwindet plötzlich seine Frau, und Senlin bleibt keine andere Wahl: Wenn er sie wiederfinden will, muss er in den Turm.

Und das Abenteuer beginnt …


Rezension

Im ersten Kapitel von „Im Turm“ wirken die Protagonisten beinahe klischeehaft: Der übervorsichtige Dorfschullehrer mit seinen trockenen Vorträgen und seine jüngere Frau, die mit ihrem fantasievollen, unternehmungslustigen Wesen sein absolutes Gegenteil zu sein scheint. Doch dieser Eindruck hält sich nicht lange. Denn als Senlin Marya im Gewimmel verliert, ist das einzige, was ihm bleibt, ihre neckische Aufforderung, sie an der Spitze des Turms zu treffen. Das ist für ihn den Anfang einer abenteuerlichen Reise bedeutet, die seine verborgenen Stärken bloßlegt.

Das Setting von „Im Turm“ ist schwer einzuordnen. Einerseits heißt der Turm der „Turm von Babel“ und die Namen von Ortschaften und Währungen muten vorderasiatisch an. Zugleich haben viele Beschreibungen ein Flair, das eher an ein steampunkiges England des 19. Jahrhunderts erinnert. Und der Turm selbst scheint nicht ganz Teil dieser Welt zu sein, denn obwohl viele Aspekte dieses Bauwerks und seiner Bewohner an sich normal sind, wirken sie gerade in den ersten Kapiteln des Buches in ihrer Fülle und Vielfalt überwältigend, und der Markt rund um den Fuß des Turms ist so chaotisch und ständig im Wandel begriffen, dass er etwas von einem (Alb-)Traum hat.

Als Senlin auf der Suche nach Marya höher und höher steigt, lernt er nach und nach mehr über den Turm. Obwohl vieles realistisch und alltäglich erscheint, wird zugleich immer wieder klar, dass sich Senlin durch eine fremde Welt bewegt, deren Regeln er nicht versteht – was schnell gefährlich werden kann. Er sieht Pracht und Luxus ebenso wie die Armut, Sklaverei und drakonischen Strafen, die Teil der Ordnung des Turms sind.

Dadurch, dass jede Ebene völlig anders aussieht und Senlin hier immer neuen Figuren begegnet, hat „Im Turm“ zunächst eine eher episodische Struktur, doch nach und nach trifft Senlin alte Bekannte wieder oder wird mit den Konsequenzen früherer Entscheidungen konfrontiert. Er muss sich Herausforderungen stellen, an denen er vorher verzweifelt wäre. Man sieht ihm aber nicht nur dabei zu, wie er daran wächst, sondern erhält auch einen Einblick in seine Vergangenheit und sein unbeholfenes, aber liebe- und rücksichtsvolles Werben um Marya und versteht allmählich, was sie in ihm sieht.

Obwohl Senlin lernen muss, mit Gewalt, Gefahr und Verrat umzugehen und viel von seiner Naivität verliert, entwickelt er sich doch nicht zum rücksichtslosen Antihelden, sondern zieht andere Figuren vielmehr mit Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft auf seine Seite und führt seinen Gegenspielern vor Augen, dass ihr Zynismus und Egoismus nicht die einzige Option sind. Eines der Zitate auf dem Buchrücken vergleicht ihn mit Bilbo Beutlin, und tatsächlich ist das ein sehr angemessenes Bild, da er ein Jedermann-Held ist, der in ein Abenteuer verwickelt wird und sich überraschend gut schlägt.

Senlin begegnet zahlreichen Nebenfiguren, die alle ihre eigenen Ziele verfolgen, mal offen, mal verborgen hinter anderen Absichten. Hin und wieder wird er darauf gestoßen, dass der Turm Geheimnisse hat, die selbst vielen seiner langjährigen Bewohner verschlossen sind. Diese mysteriöse Atmosphäre ist ein wichtiger Aspekt des Buches, auch wenn sie mal mehr, mal weniger ausgeprägt ist. Gerade der Anfang hat beinahe surreal-traumhafte Züge, und zum Ende hin fallen Andeutungen, die zeigen, dass es für Senlin noch viel zu entdecken gibt. Die Sprache des Buches liest sich einfach und flüssig und hier und da sind ungewöhnliche Vergleiche eingeflochten. Eine gewisse Ironie haben die Zitate aus Senlins wenig hilfreichem Reiseführer an den Kapitelanfängen, deren rosige Schilderungen bestimmter Turmebenen mit Senlins teilweise verstörenden Erlebnissen auf diesen kontrastiert werden.


Fazit

Josiah Bancrofts spannender Serienauftakt „Im Turm“ erzählt eine Geschichte in einem ungewöhnlichen Setting und mit einem sehr sympathischen Protagonisten, der sich vom spießigen Stubenhocker zum Helden mausert. 


Pro und Contra

+ sympathischer Protagonist, der große Entwicklung durchläuft
+ Gewalt und reale Konsequenzen, aber manchmal auch Bestätigung für hoffnungsvolles Menschenbild
+ ungewöhnliches Setting
+ einprägsame Nebenfiguren

o relativ episodisch (Struktur erinnert an ein Spiel mit Sidequests)
o Senlin ist am Anfang sehr unbeholfen

Wertung:

Handlung: 4/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3,5/5