Jagd nach einem Schatten (Andrea Camilleri)

camilleri jagd

Nagel & Kimche Verlag, 2018
Originaltitel: Inseguendo un’ombra (2014)
Übersetzung von Annette Kopetzki
Gebunden, 197 Seiten
€ 20,00 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,90
ISBN 978-3-312-01086-8

Genre: Belletristik


Rezension

Samuel ben Nissim Abul Farag wächst im fünfzehnten Jahrhundert im sizilianischen Caltabello auf. Der Fünfzehnjährige, intelligent, vielseitig talentiert, gebildet, ist der ganze Stolz seines Vaters, des Rabbi Nissim, und Hoffnungsträger auf Erlösung der von den Christen verachteten und verleumdeten Juden. Samuel ist auch geldgierig und trickreich. Von den Wunderpülverchen, die sein Vater selbst mischt und verkauft, zweigt er heimlich einen Teil ab, verkauft ihn an den Kräuterladenbesitzer und versteckt das Geld in einem Brunnen. Nur sein arabischer Freund Hakmet, mit dem er eine verbotene Beziehung hat, weiß davon.

Eines Tages überrascht er einen Mann, der den Schatz stehlen will. Er erschlägt ihn mit Hakmets Hilfe. Doch der Tote war ein Diener des Conte De Luna. Der lässt nach den Tätern suchen. Hakmet wird verhaftet, während Samuel ins Kloster flieht und sich zum Katholizismus bekennt. Für diesen Verrat wird er von den Eltern und der jüdischen Gemeinde verstoßen und gerät in Lebensgefahr.

Der Prior erkennt seine Begabung und schickt ihn ins Karmeliterkloster Catania. Dort wird er getauft und nimmt den Namen seines Taufpaten an, Conte Guglielmo Raimondo Moncada. Nach der Priesterweihe entfaltet er großes Talent als Wanderprediger, löst mit seiner Judenhetze blutige Pogrome in Sizilien aus. Die Kirche belohnt ihn mit Gütern, die seinen ehemaligen Glaubensbrüdern geraubt wurden. Kardinal Cybo, zweitmächtigster Mann nach Papst Sixtus IV., holt den gelehrten, tatkräftigen, landesweit bekannten Guglielmo, der zudem das Wohlwollen des Königs genießt, zu sich nach Rom.

Guglielmos Wertschätzung erreicht ihren Höhepunkt, als er vom Papst persönlich den Auftrag erhält, die Karfreitagsmesse zu lesen. Doch dann begeht er eine weitere schreckliche Tat. Er flieht, reist durch Europa, wird ein berühmter Gelehrter. Später taucht er unter dem Namen Flavio Mitridate in Florenz als Hebräischlehrer des berühmten Philosophen Conte Giovanni Pico della Mirandolo wieder auf, immer mit der Angst vor Entdeckung durch seinen ehemaligen Gönner Cybo, der inzwischen Papst ist.

Andrea Camilleri rekonstruiert die Biographie eines Mannes aus der Renaissance, der eine hochkomplexe Persönlichkeit mit widersprüchlichen, flüchtigen, komplizierten Identitäten war, eine schillernde, schwer fassbare Figur, mit mindestens drei verschiedenen Namen und zwei Religionen, ein Lügner, Dieb, Betrüger, Erpresser, möglicher Mörder eines Geldverleihers und Kirchenmann in Personalunion, ein von Ruhm, Reichtum und Macht getriebener Abenteurer, der sich vom Humanismus getrieben zum Gelehrten wandelt.

Camilleris Samuel-Guglielmo-Flavio ist keineswegs eine zerrissene Figur. Schon als Samuel denkt er über die Verwandlung nach, die Möglichkeit, sein altes Selbst zu begraben und ein anderer zu werden. Wie muss jemand gepolt sein, der unbelastet seine Glaubensbrüder verrät, die Religion wechselt wie sein Hemd, den Eltern das Herz bricht, einen Menschen tötet, seinen besten Freund sterben lässt, der nichts hat, was er nicht innerhalb einer Stunde zurücklassen kann? Ein solcher Mensch muss ohne Mitleid und Liebe sein, konstatiert Camilleri.

Der Name ändert sich, mit dem Alter auch die Ziele, aber der Charakter bleibt der gleiche. Immer fällt Samuel-Guglielmo-Flavio in gleiche Muster zurück. Selbst als er sich das erste Mal verliebt, wird er nicht sanfter oder milder, sondern er hat keine Skrupel, sich des Mittels der Erpressung zu bedienen, um seinen jungen Liebhaber ganz für sich zu haben. Auch der Humanist bleibt eine Bestie, wenn auch mit einer anderen Färbung.

Der Roman von 197 Seiten ist in sechs Abschnitte mit insgesamt siebzehn Kapiteln übersichtlich organisiert. In drei Einschüben nach wichtigen Lebensabschnitten der Figur meldet sich Camilleri selbst zu Wort. Er schildert, wie er auf Samuel-Guglielmo-Flavio gestoßen ist, nämlich über einen Text von Leonardo Sciascia, überschrieben mit „Das bestialische Antlitz des Humanismus“, erklärt sein über Jahrzehnte gewachsenes Interesse und legt seine Gedanken offen, die er sich über die Motive, die zu bestimmten Entscheidungen und Handlungen geführt haben, gemacht hat.

Auch erklärt Camilleri, welche Vorgaben er sich selbst beim Schreiben des Buches gemacht hat. Zum einen wollte er sich auf eine einzige Figur, ihre Metamorphose und wichtigsten Beweggründe, konzentrieren, während die anderen im Hintergrund agieren. Zum anderen wollte er keinen historischen Roman schreiben, sondern das Porträt dieser Figur mit den Mitteln des Schriftstellers zeichnen. Dies ermöglicht ihm ein deutlich höheres Maß an künstlerischer Freiheit. Er bezieht sich zwar auf historische Erkenntnisse, gibt auch eine Literaturliste an, ändert jedoch Fakten und füllt die Lücken mit der Phantasie aus, um die Figur besser verstehbar zu machen.

Unter anderem ist die Ursache für die Flucht aus Rom nicht bekannt. Lediglich von einer schweren Verfehlung ist die Rede. Camilleri erfindet ein Motiv, das nachvollziehbar und plausibel ist, kompatibel mit dem Charakter der Figur ist, die schon einmal, als Sechzehnjähriger, aus einem ähnlichen Motiv eine derartige Tat beging. Eine Handlung basiert auf einer Entscheidung und die wiederum auf dem Charakter der Figur. Über das Ende der realen Figur streiten sich die Historiker. Starb Samuel-Guglielmo-Flavio im Gefängnis oder gelang ihm die Flucht? Camilleri schreibt ein Finale, das seiner Figur würdig ist.


Fazit

Andrea Camilleris Roman Jagd nach einem Schatten rekonstruiert das Porträt einer schillernden Figur aus der Renaissance. Es ist keine wahre Biographie über Samuel ben Nissim Abul Farag-Guglielmo Raimondo Moncada-Flavio Mitridate, wohl aber eine wahrhaftige.


Pro und Kontra

+ anspruchsvoll und komprimiert, dabei spannend und mit leichter Hand erzählt
+ die Faszination des Autors für die Figur überträgt sich sofort auf den Leser
+ interessante Einblicke in die Arbeit eines Autors

Wertung:sterne4.5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3/5


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