Neujahr (Juli Zeh)

zeh neujahr

Luchterhand Verlag, 2018
Gebunden, 192 Seiten
€ 20,00 [D] | € 20,60 [A] | CHF 29,90
ISBN 978-3-630-87572-9

Genre: Belletristik


Rezension

Henning, Mitarbeiter eines Sachbuchverlages und Vater zweier Kinder, stöhnt unter seiner Lebensbelastung, befindet sich in einer Krise und, mit Frau Theresa und Kindern Jonas und Bibbi, in einem Bewältigungsurlaub auf Lanzarote, von dem er sich anschließend am Arbeitsplatz erholen will. Er ist selbstbewusst und leidet unter Panikattacken. Eine Flucht um die Zeit des Jahreswechsels herum, doch die Angst ist mitgereist. Henning begibt sich am Neujahrsmorgen auf eine anstrengende Radtour zum Bergdorf Femés. Er verschwindet, ohne mit Theresa zu sprechen.

Der Minimalplot der Gegenwartshandlung: Ein Mann fährt Neujahr auf Lanzarote Fahrrad und reflektiert. Neujahr ist ein Roman, der eine Gegenwartshandlung erzählt sowie eine Binnenhandlung, die dreißig Jahre zurückliegt. Die Binnenhandlung ist Gegenstand der Reflexion Hennings. Die Rechenschaftslegung eines Lebens, das als selbstbewusst und selbstbestimmt praktiziert wird, zumindest der eigenen Vorstellung folgend, und dennoch Unzufriedenheit erzeugt.

Henning nennt seine Panikattacken ES, verdinglicht sie dadurch nicht, versucht sie zu etwas zu machen, was nicht ein Teil von ihm ist, sondern das Andere, das irgendwann über ihn gekommen ist wie eine schwere Krankheit. Darin verborgen ist eine traumatische Kindheitserfahrung Hennings und seiner jüngeren Schwester Luna, die er auf seiner Radtour, bedingt auch durch einen geografischen Auslöser, nachvollzieht und uns in der Binnenerzählung vermittelt. Das Böse ES erinnert an Stephen Kings gleichnamigen Horrorroman. Bei Henning wie bei King kommt ein Dreirad vor.

Die Geschichte liest sich dabei nicht wie eine Bewältigungsreise, sondern wie eine Rundfahrt im Reagenzglas, das am Ende zerspringt. Henning strampelt sich ab und wiederholt im Rhythmus des Pedaltretens: Scheiß-Theresa, Scheiß-Theresa, wahlweise den Namen eines Kindes setzend. Er ist aus vielerlei Gründen genervt von seiner Frau, aus aktuellem Anlass, weil sie am Abend zuvor mit einem Franzosen geflirtet hat. Am Ende wird etwas anders. Aber verändert sich das Leben dadurch auch?

Die Handlung ist im banalen Alltag realistischer und normaler akademisch ausgebildeter Mittelstandsmenschen verortet, die Krisenbewältigung verläuft ebenfalls auf realistische Weise. Das mögen manche Leser langweilig finden, auch wenn sie in Zehs Roman etwas über sich erfahren, was sie wie Henning ein Leben lang schönzureden versuchen, bis es nicht mehr geht.

Henning und Theresa sind berufstätig. Da sie mehr Geld als er nach Hause bringt, ist sein Anteil an der Hausarbeit größer. Das kennt man so ähnlich von ganz früher, der Mann bringt das Fleisch von der Jagd, die Frau hat den ganzen Haushalt. Oder man kennt es von früher, der Mann bringt das ganze Geld, die Frau hat den ganzen Haushalt. In der Gleichberechtigung schaffenden Transitionsphase, die nicht eindeutig zeitlich und inhaltlich bestimmt ist, gibt es vielfältige individuelle Arrangements.

Weil bei allen Bemühungen 50:50-Vereinbarungen sich nicht exakt umsetzen lassen, wird, auch nach der Bankenkrise, die Ehebank als Referenz verwendet. Da die Kinder vom Banking keine Ahnung haben, schaffen sie Verwirrung, wenn sie beispielsweise vorwiegend zur Mutter gehen. Das führt zu Ungleichgewichten in den Buchungen, wofür aber nicht die Kinder verantwortlich sind, sondern ein Elternteil. Irgendwen gibt es immer, der irgendetwas besser hinbekommt als man selbst. Das schafft Unzufriedenheit, die irgendwann in Überforderung mündet.

Eine gerechte Aufteilung als Bedingung für das Miteinander ist illusorisch, wenn Quantifizierbarkeit und Operationalisierbarkeit nur subjektiv möglich sind. Davon abgesehen erfahren wir in Neujahr: In der Beziehung wird man unsexy, wenn man über bestimmte Dinge streitet, oder wenn man die Einhaltung von Regeln für das durch angeblich gerechte Aufteilung bestimmte Miteinander einfordert. Diese Regeln sind ohnehin nur vorübergehender Natur, sie werden bei Veränderung wichtiger Parameter neu verhandelt.

Henning beneidet andere Männer, die vielleicht wiederum ihn beneiden. Es ist ein Kreuz mit dem Ersetzen oder Modifizieren von Rollenmodellen, nicht zuletzt, weil Modelle immer die Verkürzung von Realität implizieren und deshalb immer irgendwo irgendwelche Abstriche gemacht werden müssen. Auf seiner persönlichen Suche unter Verwendung eines Fahrrades erreicht Henning bald einen Berggipfel, das Maximum seiner Möglichkeiten auf dieser Tour, um dann nahezu ungebremst in die eigene Vergangenheit zu stürzen. Es wäre ein Irrtum, zu denken, Henning wäre durch die Vergangenheit zu dem geworden, was er heute ist. Er wurde es auch durch die Vergangenheit.

Henning und Theresa haben das Problem, ihre Vorstellung von einem richtigen Leben nach wie auch immer gearteter Verhandlung eines Vertrages über das gemeinsame Leben täglich zu praktizieren. Aber weil meist schon das Setzen eines Lebensziels selten zu diesem Ziel führt, ist es fraglich, ob ihr Vorhaben gelingen kann. Hennings Situation bekommt eine doppelte Erklärung, die eine ist sozialer Natur und hat damit verallgemeinerungsfähigen Charakter. Die andere ist biografischer Natur und speist sich aus einem traumatischen Erlebnis in der Vergangenheit.

Neujahr enthält ein paar kleine eingebaute Stücke, darunter Hennings Zusammenarbeit mit dem Autor des Sachbuchs "Das gemachte Ich", einem Buch über Kinder, von denen beide keine Ahnung haben, in dem nur Schwachsinn steht und das ein Bestseller wird. Dies passt, denn für die Helden der Erzählung sind Kinder ein Projekt, eine Art Investment mit Buchungsposten im eigenen Lebensportfolio. Was Kinder – auch - sein können, darüber schreibt Zeh in der Binnenerzählung. Darin gibt es außerdem einen anderen Blick auf die Angst.

Interessant sind die Bezüge zu Zehs jüngerem Buch Nullzeit. Darin befinden sich die Protagonistin, eine Schauspielerin, und ihr Lebensgefährte auf einer Insel, wo sie sich auf ihre nächste Rolle vorbereiten will. In einer ähnlichen Situation befindet sich Henning. Während in Neujahr der Flirt mit dem Franzosen etwas bewirkt, wird in Nullzeit aus einem harmlosen Flirt eine Dreiecksbeziehung mit tödlichem Ausgang. Theresa wähnt sich in einer Art Dreierbeziehung mit Henning und seiner Schwester Luna, die sie noch nie leiden konnte. Sie lehnt es sogar ab, dass er Luna hilft.

Warum Henning und Luna traumatisiert sind, warum er ihr hilft, davon erzählt die Binnengeschichte. Die Vorbereitung auf seine „neue Rolle“ verändert auch hier grundlegend die Beziehung. Das letzte Kapitel beschreibt einen Gewaltakt, aufgeführt von Henning in dem Bemühen, die Kontrolle über sein Leben zurückzuerlangen. Der Gedanke, Henning könnte sich in einer Midlife-Crisis befinden, greift vermutlich zu kurz. Ab einem (unbestimmt) bestimmten Alter scheint eine Abfolge von Krisen der Normalfall im Leben zu sein.


Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5