Vox (Christina Dalcher)

dalcher vox

Fischer, 2018
Originaltitel: Vox (2018)
Übersetzt von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol
Gebunden, 400 Seiten
€ 20,00 [D] | € 20,60 [A] | CHF 24,90
ISBN 978-3-10-397407-2

Genre: Science Fiction


Rezension

Politiker kümmern sich um das Wohl der Menschen. Vielen kommt dies entgegen, sind sie doch der Meinung, sie zahlen dafür Steuern und müssen sich selbst nicht mehr kümmern. In einer recht nahen Zukunft haben Frauen in den USA nicht mehr viel zu sagen. Die frauenfeindliche Bewegung der Reinen hat die Macht in den Vereinigten Staaten durch demokratische Wahlen gewonnen. Protagonistin Jean McClellan, eine Linguistin, die über durch Schlaganfall verursachte Aphasie forscht, hat die Politik immer denen überlassen, die sich schon kümmern. Sie war sogar froh, dies machen zu können, musste nicht mehr lästige Aufgaben wahrnehmen, wie zur Wahl zu gehen.

Hätte sie doch auf ihren früheren Mitbewohner gehört, den Schwulen, der in sie verliebt war. Dann…Ja, was dann? Hätte sie verhindert, dass der weibliche Teil der US-Bevölkerung eines Morgens aufwacht und erfährt, dass Mädchen und Frauen pro Tag nur noch hundert Wörter sprechen dürfen? Sie bekommen ein Metallarmband an das Handgelenk, das nach Erfüllung des Kontingentes weitere Wortabsonderungen mit elektrischen Stromstößen bestraft. Eine Art Unwellness-Tracker, der statt Vitaldaten Verbaldaten misst und statt zu hoher Cholesterinwerte zu hohe Wortäußerungswerte moniert. Natürlich werden die Frauen aus der Arbeitswelt entfernt. Als die Regierung Interesse an Jeans Arbeit bekundet, ist sie zur Kooperation bereit unter der Voraussetzung, dass sie und ihre sechs Jahre alte Tochter nicht mehr unter die Wortregelung fallen. Der Bruder des Präsidenten soll durch Jean geheilt werden. Die Geburtsstunde des Widerstands schlägt.

„Make America great again“: Seit Donald Trump diese Vorstellung umzusetzen versucht und seit #MeToo sind in den USA feministische Dystopien als massiver kultureller Reflex beobachtbar. Naomi Aldermans The Power/Die Gabe, Red Clocks von Leni Zumas, Future Home of the Living God von Louise Erdrich, Sleeping Beauties/Sleeping Beauties von Stephen King und Owen King gehören zu den bekannteren dieser Werke, von denen es mittlerweile viele gibt, ganz zu schweigen von den Fernsehserien und einzelnen Spielfilmen. Die Konsequenzen hinsichtlich Partizipation, Lautäußerung etc. stehen noch aus. Es muss sich zeigen, ob es bei der profitablen Ausbeutung von Ängsten bleibt.

Als ein Mann zu Jean sagt, sie trage keine (Mit-)Schuld an dieser Entwicklung, entgegnet sie, ihre Schuld habe schon begonnen, als sie zum ersten Mal nicht mehr zur Wahl gegangen sei. Jean ist verheiratet mit Patrick. Sie haben vier Kinder, die sechsjährige Sonia, die elfjährigen Zwillinge Sam und Leo, den siebzehnjährigen Steven, der kurz vor dem Abschluss der High School steht. Die Zwillinge spielen kaum eine Rolle, die beiden anderen Kinder werden auch in ihren Reaktionen auf die neue Politik entwickelt. Sonia passt sich rasend schnell an, als ginge es um ein Spiel. Und in der Schule gibt es ja auch einen Preis für das Mädchen, das die wenigsten Worte äußert. Steven wiederum gehört in dieser neuen Gesellschaft zur Elite und nutzt seine neue Macht zur Durchsetzung der Regeln gegen Mädchen. Jean liebt ihre Tochter, muss sich aber wiederholt einreden, dass sie ihren Mann und ihre Söhne nicht hasst.

Der erste Teil des Romans bereitet die Bühne für die neue Politik. Durchsetzt ist das Ganze mit Rückblenden und einer Vorgeschichte. Nach Konstruktion der Ausgangslage wird Jean reaktiviert und bekommt Sonderrechte zuerkannt, weil sie just in dem Bereich Spezialistin ist, in dem der Bruder des Präsidenten zum Patienten geworden ist. Danach wird die Geschichte zu einem typischen Abenteuer im Wettlauf gegen die Zeit. Donald Trump wird zwar namentlich nicht genannt. Aber der Präsident, um den es in Vox geht, ist Führer der Nation nach der Ausscheidung des ersten schwarzen Präsidenten aus dem Amt. Und die Trennmauer zwischen den USA und Mexiko steht.

Die Ausschaltung der Frauen aus der Öffentlichkeit nahm ihren Anfang im Bibelgürtel der USA. Die Frau übernimmt ihre Rolle im Heim und am Herd, während der Mann hart arbeitet und das Geld nach Hause bringt. Schwule und Lesben haben sich erfolgreich heilen oder bekehren lassen, oder aber sie sitzen im Gefängnis. Damit Frauen nicht auf die Schriftsprache ausweichen, dürfen sie keine Schreibinstrumente benutzen. Bücher, Computer und Gebärdensprache sind tabu. Überwachungskameras bewirken eine Verstärkung der nichtverbalen Kommunikation. Vox ist eine Dystopie, die intelligente Menschen abbildet, welche im Angesicht einer bösen Entwicklung, die sich am Horizont abzeichnet, Position gegen Kritiker und Mahner bezieht und sagt, es werde schon nicht so schlimm werden, falls doch, werde irgendwer irgendwas dagegen unternehmen.

Männliche weiße konservative Christen konnten die Macht im Land übernehmen, weil Menschen auf ihr Partizipationsrecht verzichtet haben und einer seltsamen Ideologie der Nichteinmischung in den öffentlichen Diskurs gefolgt sind. Die Geschichte beginnt rund ein Jahr nach Einführung der Gesetze, durch die dem weiblichen Teil der Bevölkerung „die Stimme genommen wurde.“ Es geht nicht darum, wie dies passieren konnte, sondern um die Auswirkungen dieser Politik auf die Gesellschaft. Das dystopische Setting ist eher eine Grobskizze. Die Prämisse, durch welche die Veränderung möglich wird, erscheint arg konstruiert. Die Charaktere sind reduziert auf einfache didaktische Figuren. Die Probleme lassen sich im Grunde alle leicht lösen.

Auffällig ist der subtile Sexismus gegen Männer, den sich entmannt fühlenden heterosexuellen weißen Mann insbesondere. Dalcher macht es sich ein wenig einfach, wenn sie die fundamentalen Christen ursächlich verantwortlich macht. Sie bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf die Bibel. Hätte sie herausgearbeitet, dass eine bestimmte Qualität radikaler Christen mit einer konkreten Agenda in einem ebenso konkreten Bezugs- und Handlungsfeld den Ausgangspunkt bilden könnte, wäre es anders gewesen – mindestens differenzierter. Wer gerne etwas tiefer gräbt, mag sich einige Fragen stellen, darunter die, ob ein männlicher Wartungstechniker vorbeikommt, um die Armbänder, die Energie benötigen, aufzuladen. Oder die Frage, wie groß der Ressourcenaufwand ist, den die Herrschenden betreiben, damit Frauen nicht aus den USA fliehen können.


Fazit

Im Debüt der Linguistin Christina Dalcher, Vox, übernimmt ein frauenfeindlicher Männerhaufen aus dem radikalen christlichen Bibelgürtel die USA. Frauen bleiben Bürgerinnen, werden aber Bürger zweiter Klasse. Es wäre schön gewesen, etwas (mehr) über die dystopische Welt zu erfahren. 


Pro und Kontra

+ Buchidee

- Umsetzung

Wertung:sterne3

Handlung: 3/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 3/5
Preis/Leistung: 3/5