Walkaway (Cory Doctorow)

walkaway

Heyne (Juni 2018)
Klappbroschur
736 Seiten, 16,99€
ISBN: 978-3-453-31793-2

Genre: Science Fiction


Klappentext

Mitte des 21. Jahrhundert: Die Erde ist vom Klimawandel gezeichnet, die Staaten werden von Ultra-Reichen regiert, und die Städte haben sich für die normalen Bürger in Gefängnisse verwandelt. Aber es ist auch eine Welt, in der sich Lebensmittel, Kleidung und sogar Behausungen per 3D-Druck ohne großen Aufwand produzieren lassen. Warum also in einem so kaputten System ausharren? Warum nicht einfach … weggehen? Und so werden vier ungleiche Helden zu „Walkaways“. Sie lassen die Zivilisation hinter sich und suchen nach Freiheit und Selbstbestimmung. Und machen die vielleicht größte Entdeckung aller Zeiten.


Rezension

Hubert Vernon Rudolph Clayton Irving Wilson Alva Anton Jeff Harley Timothy Curtis Cleveland Cecil Ollie Edmund Eli Wiley Marvin Ellis Espinoza – kurz auch Hubert Etcetera genannt – und sein Kumpel Seth lernen Natalie auf einer kommunistischen Party kennen. Diese Partys finden in verlassenen aber funktionsfähigen Fabriken statt und zeichnen sich durch chemische Drogen, laute Musik und riesige 3D-Drucker, die illegal Möbel für alle herstellen, aus. Nachdem die Party von der Polizei auffliegt, retten sich die neuen Freunde zu Natalie. Es stellt sich heraus, dass sie eine Zotta ist. Eine Tochter aus ultrareichem Hause. Während sie alle Privilegien einer Zotta genießt, ist sie in keiner Weise einverstanden mit dem angeborenen Recht auf Reichtum und überschlägt sich regelmäßig mit ihrem Vater. Auch an diesem Abend eskaliert der Streit und so kommen die drei jungen Erwachsenen darauf, dass es zum Default, der normalen von Reichen beherrschten Welt, eine andere Option gibt. Sie könnten weggehen, sie könnten sich den Walkaways anschließen.

Der Klappentext – davon abgesehen, dass er von vier ungleichen Helden spricht, obwohl es nur drei sind – klingt reißerischer, als der Inhalt des Romans tatsächlich ist. Was nicht bedeutet, dass „Walkaway“ nicht spannend sein kann. Aber Cory Doctorow möchte mit seinem Roman mehr erreichen, als den Leser ausschließlich zu unterhalten. Zum einen benötigt er dafür viel Raum, was sich in 736 Seiten niederschlägt, die durchaus auch ihre Längen haben. Und zum anderen stellt er das Geschehen und seine Vorstellungen einer Utopie mitten in einer Dystopie über seine Charaktere. Was – betrachtet man auch diverse andere Meinungen – für die meisten den größten Minuspunkt darstellt.

Nachdem die frischen Walkaways den Default verlassen, treffen sie auf Limpopo, die ein B&B betreibt und die Frischlinge in die Welt der Flüchtlinge einführt. Allerdings wechselt Doctorow dazu die Perspektive und erzählt aus Limpopos Sicht, während die drei Neuankömmlinge neue Namen haben. Denn jeder, der will, legt seinen alten gegebenen Namen ab und wählt einen neuen. So wird Natalie zu Iceweasel, Hubert zu Etcetera und Seth bleibt am Ende doch Seth. Bereits in Kapitel zwei also verlässt Doctorow zum Teil die vermeintlichen Hauptcharaktere und deren Erfahrungen und Emotionen. Besonders Etcetera rutscht für sehr lange Zeit in den Hintergrund, was sehr schade ist, ist er doch der sympathischste Charakter. Trotzdem sind alle im weiteren Verlauf auftauchenden Charaktere nicht minder interessant. Gerade Limpopo ist sehr gelungen. Es bleibt aber gewöhnungsbedürftig, dass man für Monate gewisse Figuren nicht zu Gesicht bekommt.
Mindestens so gewöhnungsbedürftig sind die Zeitsprünge. Ohne konkrete Zeitangaben muss man aus dem Kontext sich erdenken, wie viel Zeit vergangen ist. Gerade waren sie noch die „Noobs“, sind sie im nächsten Moment schon Monate da und haben sich eingelebt, haben Beziehungen und haben sich auf diverse Arten nützlich gemacht. Für das nächste Kapitel sind bereits Jahre vergangen und so weiter. Teils erinnert das an die Erzählstruktur einer Serie - episodenhaft und teils abgehakt, bekommt man die Story präsentiert.
Bei solchen Zeitsprüngen bleiben, wie erwähnt, die Charaktere ein wenig auf der Strecke. Die Entwicklung, die sie in der Zeit gemacht haben, sind nicht verfolgbar. Man muss die „neue“ und ältere Person einfach hinnehmen und bekommt die Gründe und Erlebnisse indirekt - z. B. über Dialoge - mit. Diese Dialoge wiederrum sind keine Lückenfüller, sondern dienen zur Vermittlung der politischen und philosophischen Ideen der Charaktere, aber eben auch des Autors. Über mehrere Seiten können sie sich erstrecken. Wer nur unterhalten werden will, wird sich schnell langweilen, allerdings sind diese Diskussion gefüllt mit sehr interessanten Aspekten und Ideen. Perfekt für jeden, der nach mehr Tiefe sucht.

Im Mittelpunkt steht also die zukünftige Welt und nicht der Mensch in ihr. Doctorow legt sich nicht auf eine Jahreszahl fest, dennoch ist klar, dass diese Zukunft nicht allzu weit in der Zukunft liegt. Die Ultra-Reichen der Gegenwart, werden noch reicher, das ist heute schon kein Geheimnis. Der Reichtum geht an die nächsten Generationen und irgendwann haben wenige alles und der Rest hat nichts. Gleichzeitig sind 3D-Drucker heute schon existent und in wenigen Jahren wird ein 3D-Drucker mit nur wenigen Ressourcen einen weiteren 3D-Drucker drucken können, der materielle Konsum könnte dadurch auf der Kippe stehen. Es gibt 3D-Drucker die Nudeln drucken und die Idee, dass Medikamente und Kleidung ebenfalls aus dem Drucker kommen, sind nicht so abwegig – oder sogar unausweichlich. Auch hier wird der Mensch also autonom. Die Idee der Utopie, dass Maschinen für uns arbeiten und der Mensch alles selbst herstellt und somit kein Geld oder Arbeit benötigt, steht quasi – zumindest theoretisch – vor der Tür. Eben jene Welt zeichnet Doctorow sehr überzeugend und überaus detailliert. Durch die Zeitsprünge, treibt er aber auch die technische Entwicklung auf beängstigend realistische Art und Weise voran.
Walkaway“ ist Science-Fiction at its best. Denn hier wird der naturwissenschaftliche Teil sehr groß geschrieben. Dafür wird sich viel Zeit genommen, aber eben auch die Spannung ein wenig geopfert. In der zweiten Hälfte des Romans geht es aber durchaus wild zu, denn die Walkaways werden von den Zottas nicht einfach hingenommen und greifen diese mit kriegsähnlichen Vorgehen regelmäßig an.


Fazit

Cory Doctorow liefert mit „walkaway” einen ambitionierten und anspruchsvollen Roman, der die Bezeichnung „Science-Fiction“ wahrlich verdient. Die Welt des Default ist verstörend realistisch und die Welt der Walkaways realistisch hoffnungsvoll. Die Charaktere hingegen fallen dieser Welt zum Opfer und dienen eher als Werkzeug, als dass sie einem wirklich nahe kommen könnten, wie man es sich wünschte. Auch wenn der Weg manchmal etwas zäh ist, hinterlässt der Roman und das Ende aber einen bleibenden Eindruck.


Pro und Contra

+ erstaunlich realitätsnah
+ die Science-Fiction wird groß geschrieben
+ philosophischer Diskurs, der alle Seiten betrachtet und nicht missionarisch ist
+ tiefgründig und denkanstoßend

- Charaktere fallen teils den Zeitsprüngen und Perspektivwechseln zum Opfer
- manche romantische Beziehungen sind demonstrativ statt realistisch

Wertung:sterne4.5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 3,5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4,5/5