Das Casting (Ryū Murakami)

murakami casting

Septime Verlag, 2018
Originaltitel: オーディション/Ōdishon (1997)
Übersetzt aus dem Japanischen von Leopold Federmair und Motoko Yajin
Klappbroschur, 191 Seiten
€ 12,90 [D] | € 12,90 [A] | CHF 15,90
ISBN 978-3-902711-75-5

Genre: Thriller


Rezension

Das Casting erzählt von dem 42-jährigen Witwer Shigeharu Aoyama, einem erfolgreichen Filmproduzenten und Eigentümer einer Firma für PR-Videos aus Tokyo. Aoyama will sieben Jahre nach dem Tod seiner Frau Ryôko wieder heiraten, weiß jedoch nicht, wie er eine Frau kennenlernen soll. Sein Freund Yoshikawa, der im Filmgeschäft tätig ist, schlägt vor, ein Casting für die weibliche Hauptrolle in einem Film zu veranstalten. Dieses Casting soll tatsächlich aber der Auswahl der idealen Heiratskandidatin dienen.

Beim Durchsehen der Bewerbungsunterlagen entscheidet sich Aoyama schnell für die anmutig wirkende 24-jährige Asami Yamasaki. Sie kommen einander während mehrerer Treffen näher. Es gibt Hinweise darauf, dass mit Yamasaki etwas nicht stimmt. Aber da Liebe bekanntlich blind macht, auch direkt konstruierte, soll Yamasaki Aoyamas Traumfrau sein. Aoyama erfährt von Yamasakis wiederholtem Missbrauch in der Kindheit und ihren zerstörten Traum von einer Zukunft als Ballerina. Beides hilft ihm bei der intensiven Romantisierung ihrer Beziehung. Sein Sohn macht sich ernsthafte Gedanken darüber, ob ein Mensch ein Kindheitstrauma überwinden kann.

Murakamis Roman Ōdishon kam 1997 in Japan heraus. Die Verfilmung durch Takashi Miike kam 1999 unter dem Titel Audition in die Kinos. Die deutsche Übersetzung erschien 2013 in gebundener Fassung und 2018 in Klappbroschur. Verglichen mit dem Film ist der Roman sehr direkt erzählt. Der Film belässt manche Dinge im Unklaren und ermöglicht dadurch andere interpretative Zugänge als das Buch. Beide Werke sind sehr brutal, jedoch ist der Film bei aller Erzähltreue in der Wahl der Mittel für die Umsetzung psychotischer Handlungen drastischer. Die Romanerzählung geht sehr schnell und ökonomisch voran. Das Casting-Konzept wird knapp dargelegt und teils in seiner Fragwürdigkeit von Aoyama und Yoshikawa diskutiert. Über die Funktion eines Auslösers hinaus spielt diese interessante Prämisse kaum eine Rolle, wenngleich in Ansätzen moralische Aspekte des Vorgehens der beiden Männer Gesprächsstoff sind.

Die Geschichte ist durchsetzt mit einigen intelligenten Gedanken über die Entwicklung der japanischen Gesellschaft bis zur Jahrtausendwende. Eine Zustandsbeschreibung lässt sich so zusammenfassen: Japan ist "ein ziemlich komisches Geldland" geworden, in dem die Menschen ihr Leben um Konsummöglichkeiten organisieren, immer mehr Güter haben wollen, aus der Qualität der Befriedigung ihrer Konsumwünsche die Qualität ihres Lebensglücks ableiten, dabei weniger Wert auf heimische Produkte legen als auf alle möglichen Dinge, die aus dem Rest der Welt kommen und die es in Japan "vor ein paar Jahren" noch nicht gegeben hat, wie beispielsweise belgisches Bier, das Aoyama trinkt.

Diese spezifische Ökonomisierung des Lebens führt auf den Warencharakter und rückt den Mangel in den Vordergrund, der sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen und im Verhältnis zur Warenwelt äußert. Kontrastierend erinnert sich Aoyama an eine Zeit in der DDR, in Wittenberg, wo er eine Organistin für ein Projekt besuchte. Während Aoyama und sein Sohn mit ausreichender Tiefe beschrieben sind, um sie verstehen zu können, verhält es sich mit Yamasaki anders. Sie wirkt etwas maschinenhaft. Der Figur kommt man nur bedingt nahe, ihr extremes Verhalten ist nur knapp motiviert, zumal die Auswirkungen des Missbrauchs sich oberflächlich zeigen. Ein Charakter wie Yamasaki ist zwar aus westlicher Literatur und besonders Filmen nicht ganz unbekannt, man denke nur an Adrian Lynes Eine verhängnisvolle Affäre (Fatal Attraction, USA 1987). Aber in seiner extrem psychotischen Ausprägung und der schockierenden Brutalität, gepaart mit dem engelhaften Auftreten und ihrer Liebenswürdigkeit in anderen Situationen, ist sie eher ungewöhnlich.

Der dritte Teil des Romans beinhaltet das Horror-Finale, die schockierende Klimax. Murakami äußert sich in Das Casting als grenzüberschreitender Autor. Nicht zuletzt durch sinnvoll gestreute Hinweise ahnt man nach wenigen Seiten, dass die Geschichte nicht gut ausgehen kann. Einzig relevant für die böse Entwicklung ist, dass Aoyama und Yamasaki aufeinandertreffen. Spätestens nach beider Treffen im Hotel geht es nicht mehr darum, ob Yamasaki Aoyama töten will, sondern nur noch darum, wann und in welcher Qualität. Murakami entwickelt dieses Handlungselement auf unmittelbare Weise, ohne die geringste Ablenkung oder Irritation. Dennoch macht er dies auf spannende Weise, die trotz der einfachen Geschichte die Leser in der Lektüre hält. Man weiß die ganze Zeit, wie die Rollen verteilt sind. Aber man weiß nicht, wie es genau ausgeht, wer oder ob überhaupt jemand überlebt.


Fazit

Ryū Murakami erzählt in Das Casting eine spannungsgeladene Geschichte über einen Mann, der auf ungewöhnlichem Wege eine junge Frau kennenlernt, auf die Schnelle eine Liebe konstruiert, die sie hinreichend füttert, der sich den Warnhinweisen seiner Umgebung verschließt und sehenden Auges ins Unglück läuft, das in einer brutalen Spannungsentladung seinen Hochpunkt findet.


Pro und Kontra

+ spannende Demaskierung einer Psychopathin
+ interessante Geschichte über die Konstruktion einer Liebe
+ subtile Hinweise auf zu erwartende Entwicklungsmomente durch die Erzählinstanz
+ intelligente Gedanken über die Entwicklung der japanischen Gesellschaft bis zur Jahrtausendwende

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


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