Tochter des Sturms. Die Frauen von Troja, Band 1 (Emily Hauser)

hauser tochterdessturms

Goldmann 2018
Originaltitel: For the Most Beautiful (2016)
Übersetzung von Sonja Hauser
Broschiert, 400 Seiten
€ 12,00 [D] | € 12,40 [A] | CHF 17,90
ISBN 978-3-442-48502-4

Genre: Historischer Roman


Rezension

Der trojanische Königssohn Paris begeht den Fehler, sich in einem Schönheitswettbewerb für eine von drei Göttinnen zu entscheiden. Zwar bekommt er von der Siegerin den Hauptgewinn, die schönste Frau der Welt, zumindest unter den Sterblichen. Aber die beiden Verliererinnen bringt er durch sein Urteil gegen sich auf.

Es entspinnt sich insgesamt Folgendes: Paris entführt Helena, die Frau des Menelaus, nach Troja. Menelaus schickt seinen Bruder Agamemnon als Vermittler für die Rückgabe. Erfolglos. Es gibt Krieg. Die Griechen ziehen gen Troja. Anfangs überfallen sie das Umfeld der Stadt. Agamemnon und Achilles erhalten als Kriegsbeute Chryseis und Briseis. Chryseis ist die Tochter eines Apollonpriesters. Der will seine Tochter zurück, wird aber von Agamemnon nur gedemütigt. Auf Bitten des Priesters überzieht Apollon die Griechen mit einer Seuche. Agamemnon gibt Chryseis frei und nimmt als Ersatz Briseis. Der darauf erwachsende Zorn des Achilles bringt den Griechen weitere Probleme. Achilles weigert sich, zu kämpfen, was zum Tod seines Freundes Patroklos durch Hektor führt, was zum Tod Hektors durch Achilles führt, woraus sich am Ende der Tod des Achilles und der Untergang Trojas ergeben. Dies ist eine Möglichkeit, in Kürze die Vorgeschichte des Trojanischen Krieges und den Inhalt der Ilias des Dichters Homer wiederzugeben.

Aus Emily Hausers Sicht sind Chryseis und Briseis die interessantesten Frauenfiguren des Epos. Nun hat sie ihnen mit Tochter des Sturms einen ganzen Roman gewidmet. Der reiht sich ein in Werke aus der jüngeren Vergangenheit, die das Geschehen der Ilias aus weiblicher Sicht erzählen und wenigstens eine Frau aus dem antiken Epos zur Hauptfigur haben.

Zu Beginn lernen wir Briseis, die Tochter des Brises und Ehefrau des Prinzen Mynes, kennen, ihre Vorstellungen vom Leben, erfahren, wie ihr Alltag aussieht, als Herrscherin von Lyrnessus. Bis die Männer um Achilles kommen, der den Gatten der Briseis tötet, ohne hinzusehen, und Briseis als Beute mitnimmt. Auf ähnliche Weise wird Chryseis aus ihrem Alltag heraus in die Handlung eingeführt. Sie steht kurz vor ihrem 16. Geburtstag und ihrer Weihe zur Priesterin. Sie will jedoch etwas aus ihrem Leben machen, hat verbotenen Sex mit Troilus und will mit dem Geliebten heimlich Troja verlassen. Tochter des Sturms wird vor allem aus der Ich-Perspektive der beiden Hauptfiguren erzählt. Wir erfahren, wie sie mit ihrer Situation umgehen, soweit möglich das Überleben in die eigene Hand nehmen und an eigenen Plänen arbeiten. Dabei stellt sich die Frage, wieweit sie Kontrolle über ihr eigenes Laben haben oder erlangen können, obwohl sie sich im Zustand der Sklaverei befinden.

Die Ilias-Handlung ist im Roman erkennbar, wenn auch manche Dinge ausgelassen werden, oder in einem anderen Zusammenhang, beispielsweise einem Gespräch unter Göttern, erwähnt werden, weil sie der Wahrnehmung durch die beiden Erzählfiguren nicht zugänglich sind. Die Götter beobachten, beeinflussen und kommentieren die Ereignisse. Ihre Perspektive ist die saturierter und gelangweilter Unsterblicher, die ihre Spiele mit Menschen treiben, teilweise, um über die Zeit zu kommen, teilweise, um auf indirektem Wege Konflikte untereinander auszutragen. Hauser verwendet insbesondere hier einige Anachronismen, die den Roman in die Nähe von Fernsehserien wie Hercules oder Xena bringen. So lässt sich Apollo von Aphrodite frisieren und reagiert auf eine Äußerung Athenes mit den Worten: „Kann sich ein Gott nicht ungestört stylen lassen.“ An anderer Stelle nennt Hera Aphrodite eine Schlampe, Zeus fragt Hera nach seinem letzten Urlaub.

Die verborgene Seite der Ilias besteht für Hauser in der Sicht der Frauen auf das Geschehen, insbesondere Briseis und Chryseis, die die Ereignisse laut Hauser verursachen. Das stimmt zwar so nicht, weil die Ereignisse, fernab vom Raub der Helena und dem Kriegszug der Griechen, durch den Konflikt um Chryseis und die Kompensation, für die Briseis steht, in Gang gesetzt werden, dies von den an diesem Konflikt beteiligten Männern. Aber es begründet Hausers Ansatz. Beide Frauen hingegen kommen im Epos nur zu Beginn (Chryseis) und stellenweise im Handlungsverlauf (Briseis) vor, jeweils passiv. Und darin, dass sie Objekte der Handlung sind, liegt der eigentliche Ausgangspunkt Hausers. Sie macht die Frauen zu Subjekten, lässt sie ihre Geschichten erzählen. Zugleich stellt Hauser darauf ab, eine weibliche Perspektive auf den Krieg in der Ilias zu entwickeln.

Dass, wie heute gelegentlich behauptet wird, die weibliche Stimme in der Ilias verstummt, ist nicht ganz richtig. Frauen, sterbliche wie Göttinnen, haben durchaus eine Stimme. Beispielhaft genannt sei der Meinungsaustausch zwischen Hektor und Andromache über die beste Verteidigung Trojas in den Versen 406-493 des sechsten Gesangs. Es geht weniger darum, ob die Frauen eine Stimme haben, als darum, welche Qualität diese aufweist, im weiteren insbesondere um Entscheidungsmöglichkeiten und Machtfragen. Frauen haben nicht die Macht, die Geschichten, in denen sie vorkommen, in ihrem Verlauf mitzubestimmen. So ist der Umgang zwischen Hektor und Andromache durch gegenseitige Achtung und Liebe bestimmt, aber nicht einmal eine Frau vom sozialen Rang Andromaches hat die Möglichkeit, im Krieg um Troja Entscheidungen zu treffen.

Hauser erzählt zwar den Mythos aus weiblicher Perspektive. Aber sie versieht ihre Protagonistinnen nicht mit einer imaginierten mythischen Identität. Stattdessen und in Ermangelung von Quellen darüber, wie Mädchen und Frauen vor dreieinhalbtausend Jahren gewesen sein, wie sie gefühlt und gedacht haben mögen, gibt sie ihnen eine eigene Identität und Geschichte. Aus dieser Identität heraus handeln sie und werden heutigen Leserinnen verständlich, nicht zuletzt auch, weil sich heutige Vorstellungen in der Figurengestaltung wiederfinden.


Fazit

In schneller filmischer Erzählweise mit regelmäßigen Perspektivwechseln handelt Tochter des Sturms vom Trojanischen Krieg. Die Ereignisse werden, erweitert um Einfügungen aus der Göttersphäre, aus der Perspektive von Chryseis und Briseis vermittelt, zwei nachdenklichen und menschlichen Charakteren, die sich mit Verlust, Trauer und mit der Einsamkeit in einer fremden Welt auseinandersetzen müssen. Die Szenen und Sätze sind kurz, die Sprache ist einfach.


Pro und Kontra

+ interessante Perspektive auf eine archaische, männlich dominierte Welt

- teils triviale Ausflüge in das Reich der Sexualität

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


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