Serotonin (Michel Houellebecq)

houellebecq serotonin

DuMont, 2019
Originaltitel: Sérotonine (2019)
Übersetzung aus dem Französischen von Stephan Kleiner
Gebunden, 336 Seiten
€ 24,00 [D] | € 24,70 [A] | CHF 34,90
ISBN 978-3-8321-8388-2

Genre: Belletristik


Rezension

Florent-Claude Labrouste ist 46 Jahre alt, unverheiratet und lebensmüde. Seine Libido bewegt sich auf der Nulllinie, dank des Antidepressivums Captorix, das auf Serotonin basiert. Als die Erzählung einsetzt, ist er mit der Japanerin Yuzu liiert, allerdings in der Schlussphase der Beziehung. Er hat herausgefunden, dass sie nicht nur Gruppensex in seiner Wohnung praktiziert und davon Videoclips auf ihrem Rechner hat. Vielmehr treibt sie es auch in verschiedenen Spielarten mit Hunden, natürlich ebenfalls audiovisuell dokumentiert. Seine Arbeit als Berater in EU-Fragen für das Landwirtschaftsministerium interessiert Labrouste schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Er fasst den Entschluss, aus seiner bürgerlichen Existenz zu verschwinden, kündigt seinen Job, seine Wohnung und sein Bankkonto. Letzteres, nachdem er sein Vermögen von 700.000 Euro auf ein anderes Konto transferiert hat. Er mietet sich in einem Hotel mit Raucherzimmer ein und denkt über sein Leben nach.

Die Gestaltung des Erzählers erlaubt eine Kombination von privaten und gesellschaftlichen Problemen. Labrouste schreibt über die französische Landbevölkerung, die unter der EU-Agrarpolitik und dem globalen Wettbewerb leidet. Französische Milchbauern müssen konkurrieren mit irischen, deren Billigmilch in endlosen Kolonnen die französischen Märkte überschwemmt. Aufgrund struktureller Probleme ist diese nur vorgeblich gesunde Konkurrenz jedoch nicht möglich. Irgendwann weigern sich Bauern, die Rolle zu spielen, die ihnen von der französischen Regierung und der Brüsseler Bürokratie zugedacht ist. Sie blockieren die Normandie-Autobahn A 13 in einer Protestaktion, in deren Folge es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften kommt. Die Gewalt eskaliert, es gibt Tote. Labrouste abstrahiert auch von konkreten Ereignissen und lässt sich aus über anonyme Bürokratie und deren Mechanismen, über den Faktor Arbeit, der Objekt einer anonymen Kraft ist, die Rahmenbedingungen für den ökonomischen Mittelstand setzt, an denen dieser zunehmend scheitert.

Hinzu kommt das Private, Labrouste rekapituliert seine Liebesbeziehungen, denkt über die Liebe nach. Dieses Nachdenken reicht von abstrakten Überlegungen bis hin zu sehr konkreten Gedanken und der Beschreibung von sexuellen Handlungen. Er denkt häufig an seine große Liebe Camille, die ihn, weil er eine Affäre hatte, verlassen hat. Diese Momente gehören zu den besten des Romans. Hier wird Labrouste zu einer Person, die mit Gefühlen der Angst und der Scham, des Stolzes und der Kränkung, Schuldgefühlen und Gewaltfantasien umgehen muss. Er ist seiner Mitmenschen überdrüssig. Seine Haltung gegenüber den Frauen speist sich nicht zuletzt aus seinen altersbedingt abnehmenden Möglichkeiten bei jungen Frauen, führt aber auch zu eben der Ausdifferenzierung seiner ehemaligen Geliebten, an deren Ende Camille als Besonderheit erscheint.

Labroustes häufig vorgenommene Reduktion des Menschen auf dessen Warencharakter oder Gebrauchswert in spezifischen Kontexten, dies bis hin zur Frau, die auf drei Körperöffnungen reduziert und entsprechend nutzbar ist, hat etwas Verächtliches. Der Aufenthalt in einer Anlage für Nudisten dient ihm dazu, Sexismen abzusondern. Frauen sind für ihn im Grunde nur Schlampen. Er gruppiert sie in alt oder jung, welk oder frisch, und er differenziert sie über die Gestaltung ihrer Genitalien noch weiter aus. Man weiß nicht, ob es reicht, dies dem Ich-Erzähler allein zuzuschreiben. Es handelt sich um eine Qualität von Frauenfeindlichkeit, die auf den Mann zurückschlägt. Zudem liest es sich, als ginge es darum, der Gleichförmigkeit und der Austauschbarkeit zumindest ein Stück weit Individualität entgegenzusetzen.

Es greift vielleicht ein wenig kurz, wenn man den Ich-Erzähler von Serotonin als am oder im Leben gescheiterte Person sieht. Er zieht sich zurück, weil er sich nicht oder nicht mehr in Einklang mit diesem Leben bringen kann. Sein einziger Freund, der Landwirt Aymeric, begreift sich als gescheitert, hat gleichwohl große Ländereien, die er entweder verpachtet hat oder stückweise an Chinesen verkauft. Als Milchbauer sieht er keine Existenz mehr. Dies liegt jedoch nicht an ihm, da der konkurrenzwirtschaftliche Spielraum in einem agrarökonomischen Hybridkonstrukt aus Globalisierung und massiver Regulierung von ihm nicht nutzbar ist. Gleichwohl betreibt er einen Existenzkampf als Landwirt, seine Frau verlässt ihn, er versinkt in Selbstmitleid und Alkohol.

Da wir uns in einer Zeit befinden, in der immer irgendwer irgendwo als Prophet gefeiert wird, wenn es eine zeitlich auseinanderfallende aber inhaltliche Deckungsähnlichkeit von Aussage und Ereignis gibt, wird Serotonin mitunter als Vorwegnahme der französischen Gelbwesten in der Literatur gesehen. Labrouste betrachtet die Gesellschaft und den Menschen gerne unter dem Aspekt eines nicht näher benannten Gebrauchswertes, konstruiert im Denken Subsysteme der Dinge, die Baudrillard recht nahekommen. Folgerichtig führt dieses Denken auch zu einem Gefühl der eigenen Überflüssigkeit wie auch der der Anderen. Ständig nennt Labrouste irgendwelche Markennamen, als ginge es darum, den Zeichenwert in der Warenwelt über den Gebrauchswert zu erhöhen, wobei der Tauschwert kaum noch eine Rolle spielt.

Labrouste reproduziert Klischees und Stereotypen, die im Moment ihrer Äußerung immer Wiederholung sind, von ihm scheinbar ohne persönliche Begeisterung vorgetragen werden, eher beiläufig, als falle es ihm gerade in diesem Moment ein, müsse aber nicht unbedingt gesagt werden. Das Individuum und der Moment in Serotonin sind labil, Labrouste entwertet zumeist. Wenn er von Lust spricht, ist keine Lust spürbar, Begierde gibt es nicht. Das ist vordergründig dem Medikament Captorix geschuldet. Der Ich-Erzähler fährt einen alten feinstaub- und verbrauchsintensiven Diesel-SUV und definiert diesen als Beitrag zum Widerstand gegen Gutmenschen, die das Klima retten wollen. Warum nicht, reiht er sich doch damit in eine zeitgemäße Diskursqualität ein, die je nach persönlicher Sicht die Welt binär versteht. Das ist im einen wie im anderen Fall fragwürdig. Was Houellebecq damit beabsichtigt, lässt sich nur vermuten.

Auch ist nicht klar, an wen sich der Erzähler wendet. Der Text mag zwar die einen Leser betören, die anderen belästigen, was auch immer, aber mir scheint, er zerlegt vor allem seinen Erzähler, also Labrouste. Denkt man dessen Nihilismus konsequent weiter, lässt sich die Frage, an wen sich Labrouste wendet, beantworten mit: an niemanden, außer vielleicht sich selbst.


Fazit

Michel Houellebecq präsentiert in seinem neuen Roman Serotonin einen Protagonisten in der Welt- und Selbstreflexion, der seinen persönlichen Niedergang als Niedergang der Welt und diesen wiederum als äußeren Anlass zum Verschwindenwollen aus der Welt beschreibt.


Pro und Kontra

+ gut geschriebene nihilistische Selbstinszenierung
+ auf polarisierende Weise nachdenklich

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5