Dolly. A Ghost Story (Susan Hill)

hill dolly

London 2013, Profile Books
Broschiert, 160 Seiten
ca. € 10,00
ISBN 978-1-84668-575-0

Genre: Horror/Mystery

(Rezension der englischen Originalfassung. Eine deutsche Übersetzung gibt es bislang nicht.)


Rezension

Die achtjährige Waise Edward Cayley und seine gleichaltrige Kusine Leonora van Vorst verbringen den Sommer bei ihrer Tante Kestrel Dickinson in Iyot House. Edward ist ein freundlicher und etwas eigenartiger Junge. Leonora, die von ihrer Mutter im Stich gelassen wurde, ist unfreundlich. Beide Kinder wünschen sich Aufmerksamkeit und Liebe, ihre Mütter waren Schwestern und im tiefen Hass einander verbunden. Leonora bekommt von ihrer Mutter Geschenke geschickt, von denen sie keins gebrauchen kann. Als sie zum neunten Geburtstag eine seit vielen Jahren ersehnte bestimmte Puppe nicht bekommt, malt Edward ihr eine nach ihren Vorgaben. Tante Kestrel kauft ihr aus Mitleid eine Porzellanpuppe, die Leonora jedoch absichtlich beschädigt, weil sie nicht wie gewünscht aussieht. Edward hört nachts das Wimmern der Puppe und begräbt sie heimlich auf dem benachbarten Friedhof. Mehr als dreißig Jahre später werden Edward und Leonora zur Eröffnung von Kestrels Testament nach Iyot Lock eingeladen.

Susan Hill hat sich ein auf mehrere Jahre angelegtes altmodisches Vorhaben geschaffen, in dem sie Geistergeschichten erzählt, die formal alle ähnlich und auf je eigene Weise unterhaltsam sind. Sie erinnern an den Schriftsteller und Gelehrten M.R. James (1862-1936), der als Verfasser von Geistergeschichten bekannt wurde, für die er ein klassisches Rezept entwickelte. Die Zutaten sind: eine etwas naive, eher geistige Hauptfigur; eine Abtei oder Universität, ein malerischer Ort in England oder eine alte Stadt auf dem Kontinent als wesentliche Handlungsorte; ein bedrohliches altes Objekt (Buch, Gemälde); eine geisterhafte Erscheinung, die sich in böser Absicht gegen Lebende verhält. Hills Vorhaben besteht bislang aus den Büchern: The Woman in Black (1983, Neuauflage 2011; Die Frau in Schwarz, 2012), The Mist in the Mirror (1993), The Man in the Picture (2007; Das Gemälde, 2009), The Small Hand (2010), Dolly (2012), Printer’s Devil Court (2014) und The Travelling Bag and Other Ghost Stories (2016).

Eine Geistergeschichte lässt sich grundsätzlich in jeder Umgebung unterbringen, sie mag sanft oder hart erzählt werden, enervierend oder entspannend. Dennoch kommen bestimmte klassische Motive immer wieder darin vor, so ein altes finsteres Haus mit Vergangenheit und deshalb vielleicht einem Eigenleben, verfallene Friedhöfe, Kinder, die, freundlich ausgedrückt, etwas seltsam sind, Geräusche, die aus dem Jenseits zu kommen scheinen, im Wind rauschendes Blattwerk oder kryptische Hinweise. Sinnvoll eingesetzt, können solche Motive auch heute noch Leser packen.

Obgleich man bei Dolly ständig das Gefühl hat, die Handlung spiele im 19. Jahrhundert, ist sie doch eindeutig heutig. Es ist die Rede von Telefonen, Elektrizität, Autos und Flugzeugen. Aber für den gothischen Grusel ist es vermutlich wichtig, heutige Technologien beiseite zu lassen. Smart Phones erzeugen nicht wirklich Horror oder sind beängstigend, wie man in entsprechenden Horrorfilmen sehen kann. Beängstigend sind dagegen Menschen, und die kann Hill entsprechend zeigen.

Hill erzählt ihre Geistergeschichte aus zwei Perspektiven im Präteritum, eine ist Edwards in der ersten Person Singular, die andere eine auktoriale Instanz. Die Atmosphäre in Dolly ist sehr intensiv, beinahe wirkt sie wie ein Charakter in der Handlung. Das beginnt mit dem Prolog, in dem aus einer unbestimmten Beobachterperspektive, die Edwards wie auch die auktoriale sein kann, ein subtiles Stimmungsbild des im Verfall befindlichen Anwesens Iyot Lock entwickelt wird. Die Erzählung Edwards setzt ein, als dieser sich nach dem Tod von Tante Kestrel im Zusammenhang der Erbschaftsangelegenheit in Iyot Lock einfindet. Er sucht kurz Iyot House auf, nimmt sich danach im benachbarten Ort ein Zimmer für die Nacht und denkt an die Ereignisse des gemeinsamen Sommers mit Leonora. Im zweiten Teil, dem umfangreichsten des Buches, folgt eine Schilderung eben dieser Ereignisse, aber nicht, wie vielleicht zu vermuten wäre, als Erinnerung Edwards, sondern aus der Sicht der auktorialen Erzählinstanz. Diese verfügt über Informationen, die Edward keinesfalls haben kann.

In Dolly geschehen einige mysteriöse Dinge, die mit Edward und seiner beschädigten Kusine zu tun haben. Während des sommerlichen Aufenthalts bei der Tante gehen Edwards Bemühungen um Leonora gewaltig nach hinten los und verursachen Folgen, die die Kinder auf dem Weg ins Erwachsenenleben begleiten. Edward versucht mit Leonora zurechtzukommen, die jedoch die Neigung hat, ohne Vorankündigung bösartig zu werden. Er bekommt deswegen bald Angst vor ihr. Die Dynamik der Beziehung zwischen den beiden Kindern treibt die Erzählung und gibt ihr den Weg vor. Zu Beginn scheinen sie, insbesondere durch Edwards Bemühungen, miteinander auskommen zu können, obwohl schon bei der ersten Begegnung eine unterschwellige Abneigung Leonoras spürbar ist. Die Beziehung entwickelt sich so, dass die Kinder bald im Bösen aneinandergebunden sind.

In Dolly ist nicht nur wichtig, was wir lesen, sondern auch, was Susan Hill auslässt. Sie ist sehr gut darin, sich in die Gefühlswelt und den Kopf ihrer Leser hineinzubewegen. Auch dosierte Schockmomente gelingen ihr. In Momenten erinnert die Geschichte an Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray. Immer aber erkennt man James darin wieder, ohne dass es epigonisch wirkt. Ist in der Puppe ein Geist, ist die Puppe ein Geisterwesen? Die Erzählung lässt dies offen. Vielleicht ist sie verflucht, vielleicht hat eine böse Seinsform aus der Moorgegend sich in ihr eingerichtet. Hill lässt dies in der Schwebe, ein Merkmal guter Geistergeschichten, die keine lächerliche Auflösung erfahren. Wahrnehmbar ist eine Kraft, die das Leben eines Menschen zerstören kann, ohne erkennbar zu sein. Insofern hat sie etwas von Schicksal. Niemand ruft diese Kraft, niemand reizt sie, vielleicht ist es einfach ihre Natur, böse zu sein. Aber am Ende zeigt sich, dass weder der Ursprung des Phantastischen, noch die Nicht-Auflösung des Mysteriums den Vorstellungen entspricht, die sich während der Lektüre gebildet haben.

Dolly ist aber nicht nur eine sehr gute Geistergeschichte, sondern auch ein Beitrag zum Gender-Diskurs. Die Welt der Novelle ist nicht eine Männerwelt, sondern eine Frauenwelt, in der Männer dezidiert Randfiguren sind, auch wenn der einzige Ich-Erzähler ein Mann ist. Kestrel hatte zwei jüngere Geschwister, die unattraktive Dora und die schöne und von der Mutter bevorzugte Violet, woraus sich eine Hassbeziehung beider entwickelte. Dora brachte Edward zur Welt, Violet Tochter Leonora als Spiegelung ihrer selbst. Mutter wie Tochter sind zudem kosmopolitische, unbeständige und arrogante Charaktere. Leonora wiederum bekam später eine Tochter, die erst schön war und nun todkrank ist. Das Böse geht zwar von Frauen und Mädchen aus, aber neben jeder bösen Frau wirkt nicht ein guter Mann, sondern eine gute Frau. Zu diesen Paaren gehören Dora und Violet, Kestrel und ihre Haushälterin Mrs. Mullen, die erwachsene Leonora und Edwards Frau Catherine.

In der Erzählung wirken nur drei Männer mit. Bis auf Edward sind dies der Anwalt und der osteuropäische Ladenbesitzer, beide nur mit einer kurzen Nebenrolle versehen. Die weiteren Männer sind abwesend, reisen in der Welt herum und machen Geld. Im Grunde sind die zentralen Figuren bei Hill, im Guten wie im Bösen, Mädchen und Frauen. Sie bestimmen den Lauf der Dinge im erzählerischen Mikrokosmos. Edward beobachtet diesen Mikrokosmos, wird gelegentlich in ihn hineingezogen und muss auch die Konsequenzen der Handlungen in diesem Kosmos tragen. Im Kern scheint es um Liebe, Zuwendung und das Ausbleiben bzw. den Entzug beider zu gehen. Eltern schaden ihren Kindern. Deshalb sind Edwards auch früh gestorben. Elizabeth George, Susan Howatch und Ian Rankin haben – nicht als Einzige – je einen Roman über die Sünden der Väter, ein biblisches Motiv (2. Mose 20,5) geschrieben. Bei Susan Hill sind es die Sünden der Mütter, die an die Töchter weitergegeben werden.


Fazit

Susan Hill hat mit Dolly eine düstere gothische Horrornovelle geschrieben, die inhaltlich und formal geradlinig erzählte und sorgfältig durchkomponierte Literatur ist.


Pro und Kontra

+ atmosphärisch dichte Geistergeschichte
+ hervorragend geschrieben

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


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