Die Neraval-Sage – Das gefälschte Siegel (Maja Ilisch)

Klett-Cotta (2019)
Hardcover
486 Seiten, 22,00 EUR
ISBN: 978-3-608-96030-3

Genre: High Fantasy


Klappentext

Traue niemandem: keinem noch so alten Siegel, keinem Gefährten und am wenigsten dir selbst!

Um Kevron, der einst ein begnadeter Fälscher war, steht es nicht zum Besten. Schulden, Alkohol und sein Hang zur Faulheit haben ihn fest im Griff. Da klopft es eines Tages an seiner Tür. Vor der Kammer steht kein Geringerer als der fünfte Sohn des Königs: Prinz Tymur. Dem Land droht nämlich Unheil von einem uralten Erzdämon und Tymur hat einen Auftrag für Kevron. Die Spur führt ins ferne Nebelreich, und wer hier verloren geht, den wird man nicht vermissen.


Rezension

„Das gefälschte Siegel“ ist der Auftakt von Maja Ilischs erster High-Fantasy-Serie, und die Sprache des Buches passt perfekt zu dem Genre: Gerade im Prolog und bei der Einführung des Hintergrunds der Handlung, aber auch an anderer Stelle versteht sie es perfekt, eine mythische Atmosphäre zu wecken. So entsteht das Bild einer Welt voller alter Geheimnisse und Gefahren. Das Buch liest sich durchgängig angenehm und einige Formulierungen sind auffallend schön und gelungen

Die Grundidee des Romans hingegen ist eher unauffällig: Ein uraltes Übel, das seit Jahrtausenden gebannt schien, droht sich wieder zu erheben, und vier unwahrscheinliche Gefährten müssen die Gefahr abwenden – wobei sich beim Lesen aber bereits sehr früh der Verdacht aufdrängt, dass sie womöglich nur alles schlimmer machen werden. Genaugenommen stellt sich heraus, dass die das Siegel der magische Schriftrolle, die das Königshaus hütet – dass es die Welt vor dem darin eingesperrten Dämon schützt, ist seine primäre Legitimation – gefälscht ist. Nun stellt sich die Frage, ob der Dämon womöglich schon lange frei ist und Besitz von einem Menschen ergriffen hat. Nur eine Frau kann Antwort geben: Ililiané, die Alfeyn-Magierin, die geholfen hat, ihn in die Rolle zu bannen. Doch Iliilané hat sich vor Jahrhunderten ins Reich der Alfeyn zurückgezogen.

Der Fälscher Kevron wird seit dem Tod seines Bruders Kaynor von lähmender Paranoia in einer schäbigen Kammer festgehalten und erträgt sein Leben nur mit einer Menge Alkohol. Das ändert sich, als ihn niemand anderes als der jüngste Sohn des Königs, Prinz Tymur, aufsucht. Tymur fordert ihn dazu auf, seinen und seines Vaters Verdacht zu verifizieren, dass das Siegel gefälscht wurde, und eine perfekte Kopie davon anzufertigen. Denn der Prinz will sich mit der (womöglich) echten Rolle auf die Suche nach Ililiané machen und sie fragen, ob das Reich noch in Sicherheit ist.

Für diese Mission sucht er sich neben Kevron zwei weitere Begleiter: Enidin, eine talentierte und entsprechend stolze, aber unerfahrene Magierin, und Lorcan. Letzterer sollte sein Leben eigentlich als „steinerner Wächter“ der Schriftrolle verbringen, aber hat dieser Aufgabe wegen seiner starken Gefühle für Tymur den Rücken gewandt. Der schweigsame Kämpfer ist das ernsthafteste und vernünftigste Mitglied der Expedition, aber bleibt als Figur blasser als die anderen. Dagegen schwankt die gerade mal siebzehnjährige Enidin zwischen Arroganz und peinlicher Schwärmerei für Tymur und weigert sich zudem lange, ihre Kräfte für „niedere“ Zwecke einzusetzen (später stellt sich heraus, dass sie tatsächlich gute Gründe dafür hat, aber zuerst lässt sie dies ein wenig nutzlos erscheinen). Sie erwarten im Verlauf der Handlung mehrere Demütigungen.

Kevron erzählt jedem, der es hören will, dass er ein Feigling ist, und handelt auch dementsprechend, auch wenn er allmählich beginnt, sich seinen Dämonen zu stellen. Tymur dagegen ist eine widersprüchliche, aber auf jeden Fall unsympathische Figur. Er nennt die anderen Figuren zwar seine Freunde und beschwört, wie wichtig sie ihm sind, aber begegnet ihnen auch mit gönnerhafter Herablassung und nimmt ihre Gefolgschaft und Liebe beinahe als selbstverständlich hin. Seine Versuche, ihnen etwas Gutes zu tun, sind oft übergriffig (es ist ein bisschen frustrierend, dass er damit hin und wieder Erfolg hat). Wenn er sich zu erklären versucht, wirkt er oft unaufrichtig und selbstmitleidig. Teilweise scheint es fast, als wäre er ein zwanghafter Lügner, denn er verstrickt sich in Unwahrheiten, die ans Tageslicht kommen würden, wenn seine Gefährten nur einmal offen miteinander sprächen. Das macht ihn nicht unglaubwürdig, aber es ist schwer hinzunehmen, wieviel die anderen ihm durchgehen lassen. Tatsächlich ist eine der großen Fragen des Buches, ob man ihm, der im permanenten Kontakt mit der Schriftrolle und damit womöglich dem Dämon ist, vertrauen kann, aber die Eigenschaften, die ihn zu einer anstrengenden Figur machen, sind ganz normal menschliche Charakterschwächen.

Charakterschwächen ist ein gutes Stichwort, um das herausstehende Merkmal dieses Romans zu beschreiben. Während so einige High-Fantasy-Romane voller überlebensgroßer Figuren sind, die ihre persönlichen Gefühle ignorieren, damit der Fokus auf ihrer großen Aufgabe und der sie umgebenden Welt liegen kann, ist das hier nicht der Fall. Ilisch beschreibt zwar eine Fantasywelt mit düsteren Wäldern und ätherischen Alfeyn-Städten (ich hätte es übrigens vorgezogen, wenn sie einfach „Elfen“ als Bezeichnung gewählt hätte – die Alfeyn sind so nahe am klassischen Elfenbild, dass der Begriff wie ein sehr durchsichtiger Versuch erscheint, originell zu wirken), aber statt den Blick auf eine große, schillernde Welt zu lenken, werden diese Schauplätze eher zu Gefängnissen. Ihre Queste, die aber auch immer wieder mit langen Wartezeiten verbunden ist, zwingt den Figuren oft zu große Nähe und viel zu viel Zeit zum Nachdenken auf, die ihre inneren und äußeren Konflikte an die Oberfläche drängt und ihre Schwächen offensichtlich macht.

Ilischs Figuren sind sehr menschlich und es ist erfrischend, Menschen mit offensichtlichen psychischen Problemen repräsentiert zu sehen. Aber sie sind oft auch anstrengend und es drängt sich die Frage auf, ob das Schicksal des ganzen Landes nicht in den Händen anderer Leute deutlich besser aufgehoben wäre. Das Handlungstempo ist eher gemessen, aber stetig. Schließlich endet das Buch mit einer Überraschung und einem Cliffhanger.


Fazit

In ihrem stilistisch überzeugenden Serienauftakt „Das gefälschte Siegel“ schickt Maja Ilisch Figuren mit untypisch viel psychischem und emotionalem Ballast auf eine typische Fantasy-Queste.


Pro und Contra

+ schöne Sprache, perfekter erzählerischer Tonfall für High Fantasy
+ atmosphärische Schilderungen
+ Figuren überzeugen durch menschliche Schwächen und psychische Probleme
+ Repräsentation (eine schwule, eine bi- und womöglich eine asexuelle Figur in zentralen Rollen)
+ edel gestaltetes Hardcoverbuch mit zu Inhalt und Atmosphäre passendem Titelbild

o vergleichsweise wenig Action
o Figuren wecken Mitgefühl, aber sind auch oft frustrierend zu beobachten und treffen teilweise sehr dumme Entscheidungen
o von Anfang an Vorahnung, dass die Mission der Hauptfiguren mehr schaden als nutzen könnte

- Tymur ist anstrengend und unsympathisch, oft ohne Konsequenzen
- individuelle und gekonnt geschilderte Details, aber letztlich nicht sehr innovative Grundstruktur des Plots und Weltenbaus
- Cliffhanger-Ende zwingt zum Kauf des zweiten Bandes, um eine befriedigende Auflösung zu erhalten

Wertung:

Handlung: 3/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3,5/5


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