Die Morde des Herrn ABC (Agatha Christie)

christie morde

Atlantik, 2014, 3. Auflage 2018
Originaltitel: The ABC Murders (1936)
Übersetzung aus dem Englischen von Gaby Wurster
Broschiert, 256 Seiten
€ 10,00 [D] | € 10,30 [A] | CHF 14,90
ISBN 978-3-455-65003-7

Genre: Kriminalroman


Rezension

Als Alice Ascher am 21. Juni in ihrem Tabakwarenladen in Andover ermordet wird, denkt die lokale Polizei sofort an eine Beziehungstat. Verdächtiger ist Alices Ehemann, ein gewalttätiger Trinker. Allerdings hat Meisterdetektiv Hercule Poirot vor der Tat einen Brief erhalten, in dem der Absender ihn auffordert, am 21. des Monats auf Andover zu achten. Unterschrieben ist der Brief mit ABC und am Tatort hat die Polizei ein Exemplar des Kursbuchs ABC Guide gefunden. Es bleibt nicht bei diesem einen Mord. Der Täter arbeitet augenscheinlich das Alphabet ab.

Dem A-Opfer Alice Ascher folgt für den Buchstaben B Elizabeth „Betty“ Barnard aus Bexhill, ihr wiederum Sir Carmichael Clarke aus Churston. Auch an den weiteren Tatorten hinterlässt der Mörder einen ABC Guide, um Hercule Poirot zu provozieren. Den Fall bearbeitet nicht Poirots guter Bekannter Detective Chief Inspector James Harold Japp, sondern dessen junger Kollege Inspector Crome. Da man von einem geisteskranken Killer ausgeht, wird der Psychiater Dr. Thompson hinzugezogen, der ein Täterprofil zu erstellen versucht. Poirot erhält Unterstützung durch seinen Freund Captain Arthur Hastings.

Der Roman beginnt mit einem Vorwort des Ich-Erzählers Captain Hastings, in dem dieser darlegt, wie er in seinem „Bericht“ vorgeht und warum einige Kapitel in der dritten Person gehalten sind. Diese acht Kapitel tragen alle die gleiche Überschrift. Die von Hastings chronologisch erzählte Handlung folgt bis in die Überschriften hinein einer prozeduralen Logik: Briefe, Morde, befragte Personen, Lagebesprechungen. Hastings ist ein intelligenter Mensch, der manchmal im Dunkeln tappt und von Poirot über Zusammenhänge aufgeklärt werden muss. Der Sinn dieses erzählerischen Arrangements liegt auch darin, dass die Falldiskussionen zwischen Poirot und Hastings der Erzählung eine Dynamik verleihen, die sie qualitativ unterscheidet von den Geschichten, in denen Poirot alleine ermittelt. Hastings macht mitunter Beobachtungen oder Vorschläge, die sich im Verlauf der Erzählung als brauchbar erweisen.

Inspector Crome ermittelt auf eigene Weise, weshalb seine Kompetenz gelegentlich angezweifelt wird und er, dies durchzieht den Roman beinahe wie eine Slapsticknummer, als arrogant und affektiert angesehen wird. Einmal wird - erklärend - darauf hingewiesen, Crome gehöre zur neuen Garde von Baron Trenchard. Die historische Person Hugh Trenchard war von 1931 bis 1935 Commissioner der Metropolitan Police, wo er Reformen durchführte, die insbesondere die Ausbildung der Polizisten verbesserte. Neben der Erzählperspektive macht den besonderen Reiz des Romans aus, dass die Morde zusammenhanglos wirken und nur durch die Briefe an Poirot und das ABC-Motiv Verbindungen aufweisen. Für jeden Mord gibt es einen neuen Satz an Verdächtigen und Motiven. Und Poirot muss etwas finden, was die Taten verbindet und den Pfad zu einer Person weist.

In den Gang der Handlung eingestreut sind mysteriöse Abschnitte, in denen es um einen seltsamen alten Mann geht, Alexander Bonaparte Cust. Cust erweist sich als Veteran des Ersten Weltkriegs, aus dem er eine Kopfverletzung davontrug. Außerdem ist er an Epilepsie erkrankt und leidet unter Erinnerungslücken. Agatha Christie konstruiert hier einen möglichen von den Opfern unabhängigen Täter. Cust gesteht die Morde, ohne sich an sie erinnern zu können, die Polizei findet Beweise in seiner Wohnung. Poirot ist nicht von seiner Schuld überzeugt.

Die Morde des Herrn ABC ist einer der ersten Romane, die das Motiv des Serienmörders aufgreifen und auch diskutieren. Poirots Methode wird mit dem forensischen Verständnis der frühen 1930er Jahre abgeglichen. Dabei wird durch Dr. Thompson Poirots Arbeitsweise herausgefordert, wenn nicht gar infrage gestellt. Thompson ist in heutiger Terminologie ein Psychiater. Im Original ist er „the famous alienist“, in einer anderen frühen Bezeichnung ein Seelenarzt. In den Diskussionen über das Täterprofil werden in der Originalfassung Vorstellungen von einer „‘chain‘ or ‘series‘ type of murder“ entwickelt. Interessant ist auch die Diskussion darüber, wie ein geisteskranker Killer und dessen nach dem Alphabet strukturiertes Vorgehen vereinbar sein sollen.

In der Auseinandersetzung zwischen Poirot und Thompson geht es jedoch nicht um das Aufeinanderprallen einer konservativen und einer innovativen Perspektive. Poirot ist zwar schon einige Jahre aktiv, erweist sich aber in den späteren Romanen als durchaus mit der Entwicklung der Gesellschaft gehender Ermittler. Allein sein moderner Lebensstil unterscheidet ihn von konservativen Ermittlern, für die der Assistant Commissioner steht, der das Interesse Poirots wie auch Inspector Cromes am Nachdenken über geisteskranke Mörder unangemessen findet, es gleichwohl nicht unterbindet. Der Commissioner versteht auch nicht, warum Poirot bei einem Geisteskranken nach einem Motiv sucht. All dies liest sich spannend, auch wenn der psychoanalytische Jargon seiner Zeit recht unpräzise ist.

Die Morde des Herrn ABC ist einer der ersten Romane, die mit einem Serienmörder und einem Psychiater aufwarten. Eine Kollegin Christies, Gladys Mitchell, veröffentlichte seit 1929 Romane, deren Hauptfigur die Psychiaterin und Detektivin Mrs. Adela Bradley ist. Dorothy L. Sayers, Christie und Mitchell waren die wichtigsten Autorinnen des im frühen zwanzigsten Jahrhundert verorteten Goldenen Zeitalters der Detektivgeschichten, in dem der Begriff des Whodunit geprägt wurde. Christies Klassiker des Kriminalromans ist ein innovativer Text, der wirkungsmächtig bis hinein in die heutige Krimi- und Mystery-Landschaft ist. 

Den Ansatz, in einer Kombination aus der Ich-Perspektive Hastings' und dritter Person zu erzählen, verwendete Agatha Christie erstmals in ihrem 1924 veröffentlichten The Man in the Brown Suit (Der Mann im braunen Anzug, 1963). Inspiriert wurde sie durch ein vergleichbares Vorgehen von Charles Dickens in Bleak House. Die Morde des Herrn ABC ist Gegenstand mehrerer Verfilmungen für Kino und Fernsehen, zuletzt von der BBC im Jahr 2018. Es gibt Versionen als Hörspiel, Anime, Manga und Computerspiel. Die erste deutsche Übersetzung von Kurt Ziegler erschien unter dem Titel Der ABC-Fahrplan im Jahr 1937, die zweite, von Gertrud Müller, 1962 als Die Morde des Herrn ABC.


Fazit

Agatha Christie hat mit Die Morde des Herrn ABC 1936 einen Kriminalroman veröffentlicht, der, ausgehend von einer einfachen Prämisse, recht komplex wird und zum Mitdenken einlädt. Dies jedoch nicht wie bei Häkelkrimis, zu denen Christie selbst einige beigetragen hat, durch Raten auf Grundlage gestreuter Hinweise, sondern durch die Suche nach Mustern.


Pro und Kontra

+ einfache und bizarre Ausgangsidee
+ interessante Falldiskussionen

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5