Das Verschwinden des Ettore Majorana (Leonardo Sciascia)

sciascia majorana

Wagenbach, 2011
Originaltitel: La scomparsa di Majorana (1975)
Übersetzung aus dem Italienischen von Ruth Wright und Ingeborg Brandt
Taschenbuch, 96 Seiten
€ 9,90 [D] | € 10,20 [A] | CHF 14,90
ISBN 978-3-8031-2652-8

Genre: Sachbuch


Rezension

Im Sommer 1975 erschien Leonardo Sciascias Das Verschwinden des Ettore Majorana als Fortsetzungswerk in der Zeitung La Stampa. Der Text erhielt den Untertitel „giallo filosophico“ (ein philosophischer Kriminalroman). Im Herbst 1975 folgte die Veröffentlichung in Buchform. Die erste deutsche Ausgabe erschien 1978 unter dem Titel Der Fall Majorana. Thema sind die Biographie und das bis heute ungeklärte Verschwinden des Atomphysikers Ettore Majorana. Er wurde 1906 in Catania geboren, machte 1923 das Abitur, studierte in Rom Ingenieurwesen und Physik. 1929 wurde er bei Enrico Fermi in theoretischer Physik promoviert, sein Thema war die Quantentheorie der radioaktiven Atomkerne.

Im Jahr 1933 ging Majorana zu einem Forschungsaufenthalt nach Leipzig, wo er am Physikalischen Institut Werner Heisenberg kennenlernte. Sie beschäftigten sich mit Atomphysik und wurden Freunde. Majorana lernte Deutsch und veröffentlichte, von Heisenberg motiviert, einen Beitrag über seine Arbeit zur Kerntheorie in der „Zeitschrift für Physik“. Nach seiner Rückkehr nach Rom im August 1933 forschte er vier Jahre über physikalisch-philosophische Fragen, über die kaum etwas bekannt ist. 1937 veröffentlichte er einen Aufsatz und schrieb einen Essay. 

Ende 1937 trat er seine Professur am Institut für Physik in Neapel an. Im März 1938 schrieb er einen Abschiedsbrief an seine Familie und Institutsdirektor Carelli, schiffte sich nach Palermo ein. Sein letztes Lebenszeichen war ein weiteres Schreiben an Carelli aus Palermo. Dann verliert sich seine Spur. Seine Leiche wurde nie gefunden. Die Polizei ging von Suizid aus. Seine Familie glaubte nicht an seinen Tod und stellte eigene Nachforschungen an.

Als Majorana zu Fermi kam, war dieser bereits ein bekannter Physiker, arbeitete an einem statistischen Modell, später als Thomas-Fermi-Modell bekanntgeworden. Doch musste sich Fermi erst einem Test unterziehen, bevor Majorana an sein Institut wechselte. Sciascia zeigt damit das Genie Majoranas, der eben kein Student Fermis, sondern ihm mehr als ebenbürtig war. Die Beziehung zwischen den Männern war eher kühl und von Konkurrenz bestimmt. Majoranas Arbeitsweise war speziell, äußerte sich beispielsweise darin, dass der Vielraucher seine Formeln in der Straßenbahn auf Zigarettenpäckchen kritzelte, sie dann im Institut mit Fermi oder Rasetti diskutierte – und anschließend in den Papierkorb warf.

Sciascia geht der Frage nach, was für ein Charakter Majorana war. Dass er ein genialer Atomphysiker war, steht außer Frage. Sciascia versucht ihn unter anderem begreifbar zu machen, indem er Vergleiche zu Stendhal zieht. Doch die zentralen Fragen lauten, warum ein genialer Physiker wie Majorana verschwinden wollte und was wirklich mit ihm geschah. Die erste Frage beantwortet Sciascia mit Andeutungen, denn Majorana selbst sagt dazu nichts, die zweite untersucht er detektivisch.

1932 entwickelte Majorana mit der Theorie des Atomkerns die theoretischen Grundlagen der Atombombe. Seine Institutskollegen drängten ihn zur Veröffentlichung, doch er weigerte sich. Als Heisenberg sechs Monate später die nach ihm benannte Theorie publizierte, lautete Majoranas Kommentar, damit sei alles zu diesem Thema gesagt, und „wahrscheinlich schon zuviel“. Der Erzähler vermutet, dass Majorana früher als alle anderen das Vernichtungspotential der Kernspaltung erkannte. Der Besuch bei Heisenberg 1933 in Nazi-Deutschland ließ ihn verändert nach Rom zurückkehren. Er forschte nun sehr zurückgezogen, befasste sich noch stärker als vorher mit philosophischen Fragen. In seinem letzten Essay, 1937 geschrieben und 1942 in „Scientia“ veröffentlicht, betrachtet er seine Forschung im Kontext von Politik und Gesellschaft.

Sciascias Buch ist in elf Kapitel organisiert. Die beiden ersten greifen vor, erzählen von Majoranas Verschwinden, der Suche der Polizei und der Familie. Ab dem dritten Kapitel geht es chronologisch weiter, mit einer Kurzbiographie, seiner Forschung bei Fermi, dem Besuch bei Heisenberg und den Zuständen in Nazi-Deutschland, über die er seiner Mutter brieflich berichtet, der Rückkehr nach Rom, den Umständen seines Verschwindens. Das Buch endet mit einer Spurensuche fast vierzig Jahre später durch den Erzähler/Autor, mit Zitaten aus Shakespeares „Der Sturm“. Das vierte Kapitel fällt aus der Reihe, befasst sich mit dem „Fall Majorana“, einem Mordprozess in der Verwandtschaft, der allen Beteiligten die Unfähigkeit der Polizei deutlich machte. Wenn Majorana verschwinden wollte, konnte er ziemlich sicher sein, dass diese Polizei ihn niemals finden würde.

Sciascia hat intensiv mit Dokumenten gearbeitet, Polizeiakten, Briefen Majoranas an Familie und Kollegen, biografischen Zeitzeugnissen, die im Buch abgedruckt sind. Er gestaltet wichtige Momente in Majoranas Leben als doku-fiktionale Erzählpassagen, bindet alles in die politische Situation der Zeit ein. Die Unterlagen interpretiert er zudem umfassend. Es entsteht eine Art Fall, den Sciascia zu lösen versucht. Jedoch ist er gezwungen mit dem Mysterium zu schließen. Einzig die Suizidhypothese glaubt er widerlegt zu haben. Er vermutet, Majorana hatte sein Verschwinden aus dem öffentlichen Leben bewusst geplant und sich in ein Kloster zurückgezogen. Auf mystische Weise fügt er das Kloster und die Biografie zusammen.


Fazit

Leonarda Sciascias literarisches Sachbuch Das Verschwinden des Ettore Majorana schildert das Leben und Verschwinden des silizianischen Atomphysikers Ettore Majorana als philosophischen Thriller. Die Frage nach Majoranas Verschwinden setzt Sciascia in enge Beziehung zur moralischen Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers. In diesem Kontext befasst er sich auch mit dem Manhattan Project, Oppenheimer und dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki.


Pro und Kontra

+ intelligent, tiefgründig, hochinteressant und aktuell
+ trotz schwieriger Thematik nachvollziehbar erzählt
+ das Frankenstein-Dilemma als realer Fall
+ wie man einem Mysterium nachspürt, ohne es zu zerstören

Wertung:sterne4.5

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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