Nora Bendzko (23.04.2019)

Interview mit Nora Bendzko

Literatopia: Hallo Nora, möchtest Du Dich kurz vorstellen?

Nora Bendzko: Hallo, mein Name ist Nora Bendzko. Ich bin Studentin, Autorin, Sängerin und Lektorin, aber vor allem eines: der dunklen Seite verfallen. Seit 2016 veröffentliche ich die mehrfach preisnominierte Galgenmärchen-Reihe. Dabei handelt es sich um dunkelfantastische Adaptionen von Märchen der Brüder Grimm.

Literatopia: Wann springt bei Dir der Funke über, der Dich denken lässt: Ich möchte meine Version dieser Geschichte erzählen?

Nora Bendzko: Als Kind habe ich Märchen geliebt und schwärme für sie bis heute. Entsprechend habe ich auch bei den Grimms meine Lieblingsgeschichten, bei denen eine Adaption naheliegt. Manchmal fehlt mir auch etwas bei gängigen Märchenadaptionen, das ich dann selbst umsetzen möchte. Das originale "Rotkäppchen" zum Beispiel deutet an, dass der Wolf weniger ein Wolf denn ein sexueller Missbrauchstäter ist. Ein heftiges Thema, das heute kaum einer mit dem Märchen in Verbindung bringt. Diese vergessenen Stoffe, den "wahren" Kern der Grimm hervorzubringen reizt mich. Andere Male springt mich nicht sofort ein Mädchen, sondern die Idee zu einer Geschichte an. Bei "Hexensold" entstand der Roman mit der Überlegung: Was, wenn Rapunzel ein Mann wäre? Hier fand ich die Idee spannend, eine traditionelle sehr feminine Märchenrolle mit einem Mann zu besetzen und so mit bekannten Parametern zu brechen.

Literatopia: Deine „Galgenmärchen“ sind während der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs angesiedelt. Klar, es handelt sich um eine angemessen dunkle Periode, aber daran gibt es in der Geschichte nicht unbedingt einen Mangel. Warum also gerade diese Zeit?

Nora Bendzko: Ich wollte für die Galgenmärchen ein Setting, das den Flair des "dunklen Mittelalters" besitzt, aber das Mittelalter selbst fand ich zu verbraucht in der Fantasy. Auf den 30-jährigen Krieg bin ich durch die Verfilmung von Ostfried Preußlers "Krabat" gekommen und wusste sofort: Das ist es! Mich fasziniert an der Epoche besonders, dass sie eine Übergangszeit in die Moderne ist. Die Leute waren noch tiefreligiös, glaubten an Geister und Dämonen, wurden von der Pest geplagt ... Auch die Inquisition und Hexenverfolgung, die man fälschlicherweise mit dem Mittelalter in Verbindung bringt, hatten damals ihre Blütezeit. Gleichzeitig gab es enorme technologische Fortschritte, auch in der Kriegsindustrie mit der Entwicklung von Schusswaffen. Es war nicht nur eine bewegte Zeit, sie war auch voller Gegensätze.

Literatopia: Wie hast Du für Deine Bücher recherchiert? Bist Du dabei auf Details gestoßen, die Dich überrascht oder Deine Fantasie besonders angeregt haben?

Nora Bendzko: Die Recherchen für meine Bücher bestehen meist aus mehreren Teilen. Bei den Galgenmärchen macht natürlich das Historische einen großen Teil aus. Hier helfen mir Bücher zum 30-jährigen Krieg, die ich online und in Bibliotheken ausgrabe oder aber kaufe, weiter. Manche Kleinigkeiten recherchiere ich manchmal erst im Schreibprozess, z. B. wenn mir auffällt, dass ich nicht genug über damalige Währung, Kleidung oder Essen weiß.

Auch nehme ich mir bei jedem Galgenmärchen Zeit, die Entstehungsgeschichte des Märchens, das ich adaptiere, zu recherchieren. Hier bekomme ich meistens meine größte Inspiration. Was Literaturwissenschaftler, Historiker und Psychoanalytiker zu gewissen Märchen zu sagen haben, ist hochspannend und erstaunlich vielschichtig. In den finalen Galgenmärchen verknüpfe ich dann alle Elemente, die ich bei meiner Recherche interessant gefunden habe.

Ein einfaches Beispiel dafür: Der Hauptcharakter Elegio in "Hexensold" heißt mit Nachnamen "Petrosinella". Das ist eine Anspielung auf das italienische Märchen "Petrosinella" von Giambattista Basile, welches die Original-Version vom Grimm'schen "Rapunzel" ist. (Witzigerweise stiehlt die Mutter der Hexe in "Petrosinella", was sich mit "Petersilchen" übersetzen lässt, Petersilien anstelle von Rapunzeln.)

Wie an diesem Beispiel auch zu erkennen: Oft mache ich einen eigenen Recherche-Teil nur für die Namen meiner Charaktere. Ich liebe es, meinen Figuren Namen zu verleihen, die klanglich oder von der Bedeutung zu ihnen passen. Selbst bei meinen klassischeren Fantasy-Projekten werfe ich keine Buchstaben wild zusammen, sondern suche lieber Namen von längst vergessenen Mythologien und Kulturen heraus.

Selbstverständlich stoße ich bei diesen intensiven Recherchen immer wieder auf besonders inspirierende Dinge. Und sei das nur durch Sand rot gefärbter Regen, den die abergläubischen Leute von damals als "Blutregen" und Zeichen des Bösen sahen. Wenn ich so etwas lese, entstehen sofort atemberaubende Bilder und Gefühle in meinem Kopf, die ich in meinen Geschichten verbauen will.

Literatopia: Bisher sind alle Deine Bücher im Selbstverlag erschienen. Warum hast Du Dich dafür entschieden und was sind Deiner Meinung nach die größten Vor- und Nachteile davon?

Nora Bendzko: Ich benutze ja lieber das englische Lehnwort "Selfpublishing", weil es eben keinen Verlag gibt und es genau darum geht. Tatsächlich habe ich meine Galgenmärchen nie jemandem angeboten, sondern mich bei allen direkt fürs Selfpublishing entschieden. Mich reizt die absolute kreative Freiheit, die ich damit habe. Anderen macht vielleicht Angst, für alles verantwortlich zu sein. Ich sehe darin eine Chance, ein Projekt genauso zu verwirklichen, wie ich es will.

Das darf man nicht falsch verstehen, dass ich mit dem Kopf in den Wolken unterwegs bin und mich jeglicher Kritik entziehe. Tatsächlich denke ich publikumsbezogen und versuche Künstlerisches und Leserservice immer auszugleichen. Am Ende geht es mir um einen guten Text, der eine entsprechend gute Erfahrung bietet, und nicht rein um mein Ego.

Fakt ist trotzdem: Im SP kann ich mich ausleben, wie mir das in in einem Verlag nicht möglich wäre. Und da wollte ich gerade bei den Galgenmärchen keine Abstriche machen, die ich nicht im Verlag sehen kann. Weil sie so viele verschiedene Genres mischen (Fantasy, History, Thriller, Horror), weil sie explizit sind und immer wieder Grenzen ausloten ...

Bevor mir ein Verlagsmensch dazu rät, die Galgenmärchen in ein Korsett zu zwängen, lasse ich sie sich frei entfalten. Damit ich auch später zwanglos Texte schreiben kann, die tauglicher für ein Massenpublikum sind. Wenn ich in meinen frühen Tagen Bücher veröffentlicht habe, von denen ich sagen kann, dass sie durch und durch ich selbst sind, habe ich nichts verpasst.

Literatopia: Neben Deinem Schreiben bist Du auch Sängerin. Was für Musik machen Du und Deine Bandkolleg*innen und wie entstehen Eure Songs?

Nora Bendzko: Meine Bands "Avem" und "Nightmarcher" sind beide Rock- und Metalbands. Avem modern und verspielt, Nightmarcher mehr "Partymusik" und melodischer Heavy Metal. Beide Bands haben einen ähnlichen Schreibprozess. Meist beginnt es mit einer instrumentellen Idee, Bass und Gitarre, gefolgt von Keyboard werden geschrieben. Wenn es ein erstes grobes Instrumental gibt, bei dem sich die Struktur nicht mehr großartig ändert, beginne ich damit, Vocals zu schreiben. Bei beiden Bands schreibe ich alle Stimmen und so gut wie alle Texte. Ich vergleiche das gerne mit Poesie, zumal ich mit dem vermehrten Gedichte-Schreiben aufgehört habe, seit ich in den Bands bin. Dort lebe ich nun meine dichterische Seite aus. Die ist mal rau und eingängig, kann aber recht komplex sein.

Literatopia: Du hast laut Deiner Website mit verschiedenen Musikgenres und auch mit verschiedenen literarischen Stilen experimentiert, bis Du in beiden Kunstformen Deine Stimme gefunden hast. Möchtest Du ein bisschen was darüber erzählen?

Nora Bendzko: Das hast du wirklich sehr schön beschrieben! Es stimmt, sowohl in der Musik als auch in der Literatur habe ich eine lange Stimmsuche hinter mir, die wohl immer weitergehen wird.

Allein beim Singen habe ich so viel Verschiedenes ausprobiert. Ich bin die Tochter eines Jazz-Musikers, hatte ersten Gesangsunterricht in R&B und Soul, bin von dort in die klassische Musik und zum Musical gekommen, bevor ich als Teenagerin meine erste bezahlten Gigs mit dem Münchner Chor Gospel 'n' Soul hatte. Das alles vermischt sich heute in meinem Rock- und Metalgesang - das Genre, in dem ich mich immer am wohlsten gefühlt habe.

Ein Grund für diese intensive Suche war sicherlich, dass ich mich nur teils mit den klassischen, sehr femininen Stimmen identifizieren kann, die den weiblichen Rock und Metal dominieren. Wenn, dann gibt es Frauen, die growlen, als krassen Gegensatz. Ich habe beides in mir, das Sanfte und das Wilde, und vermisse musikalisch oft die Vielfalt des Spektrums. Eine meine ersten Gesangslehrerinnen hat mich früh darauf gebracht, dass ich ein natürliches Talent habe, scheinbar mühelos zwischen den Registern mitten im Gesang zu wechseln. Das ist eine Technik, die ich heute immer wieder gerne verwende und mit der ich meine stimmlichen Grenzen voll ausloten kann.

Auch mein Schreiben ist von Gegensätzen bestimmt. Ich bin von Dunklem fasziniert und sehe mich als geistiges Kind der Schwarzen Romantik - daher auch der Hang zu düsteren Märchenadaptionen. Den Reiz macht dabei nicht das rein Düstere aus, sondern wie sie im Gegensatz zu Licht scheint und umgekehrt. Ich mag kein Schwarz und Weiß, sondern das Grau. Jeder Held in meinen Büchern wirft einen Schatten, jedes Monster hat eine Geschichte. Und manchmal wartet hinter der endlos wirkenden Nacht der schönste Morgen.

Literatopia: Als Lektorin und Sensitivity-Leserin hilfst Du Autor*innen, ihre Texte zu verbessern. Was sind die schwierigen Aspekte des Jobs und was gefällt Dir daran?

Nora Bendzko: Ich liebe es, auch jenseits vom Schreiben mit Texten zu arbeiten. Vielen meiner Kolleg*innen fällt das Überarbeiten schwer. Das ist der Teil des Schreibprozesses, der mir mitunter am meisten Spaß macht. Metaphorisch gesprochen finde ich das Gefühl, einen Rohdiamanten abzuschleifen, total befriedigend. Da geht es mir im Lektorat und beim Sensitivity Reading nicht anders.

Aber auch die Arbeit mit den Menschen hinter den Texten gefällt mir. Auszuloten, was ein Roman, aber auch mein*e Autor*in braucht. Manche Leute mit wenig Erfahrung muss man viel an die Hand nehmen, andere wissen noch gar nicht, wo ihr größtes Potential liegt, und die Vollprofis wiederum sind auf schärfste Adleraugen angewiesen. Gerade Debütant*innen auf ihrem Weg zum ersten Buch zu begleiten empfinde ich als ein Privileg mit großer Verantwortung. Man hat wirklich mit den unterschiedlichsten Texten zu tun und muss immer wieder neue Dinge lernen für den Job.

Schwierig ist es, wenn es zu persönlich wird. Kritik am Text kann als Kritik an der Person missverstanden werden und zu entsprechend schlechten Gefühlen führen. Das zu kitten und zu trösten ist eine anstrengende Gratwanderung und kostet Überstunden, die mir nicht bezahlt werden. Zum Glück passiert das nur selten.

Öfter hatte ich Fälle, in denen ich mir Sorgen wegen sensibler Anmerkungen machen musste. Weil im Text Problematiken wie z. B. Romantisierung von sexueller Gewalt, Rassismus und ähnliches enthalten waren. Kein Kunde will, dass man darauf nicht hinweist, aber längst nicht jeder Kunde kann professionell damit umgehen. Gerade wenn ich mit Verlagen zusammenarbeite und mehrere Leute wie weitere Lektoren zwischengeschaltet sind, weiß ich nie, was für Reaktionen mich erwarten. Mitunter sind sie schon recht hässlich ausgefallen und haben mich das eine oder andere Mal um einen vermeintlich sicheren Job fürchten lassen.

Literatopia: Gibt es Projekte – abgeschlossene oder laufende – von denen Du unseren Leser*innen gerne erzählen möchtest?

Nora Bendzko: Ich schreibe zurzeit an vielen verschiedenen Projekten, wobei ich von einigen noch nicht so viel erzählen darf, da sie Kurzgeschichten u. a. für Verlage sind.

Hier kommt dieses Jahr eine Märchenadaption von Andersens "Schneekönigin", Arbeitstitel: "Der Schnee flüstert meinen Namen". Gegen Ende des Jahres wird es eine weitere Kurzgeschichte von mir geben, "Tiefer hinunter", und ich arbeite an einer dritten, die im Galgenmärchen-Universum spielt und unter dem Codenamen #Hafermann läuft.

Aber auch im Roman-Bereich tut sich vieles. Vor einigen Monaten habe ich das Fantasy-Epos "Die Schönheit des Biests" beendet, mit dem ich zurzeit auf Verlagssuche bin. Wie der Titel verrät, adaptiert es mein Lieblingsmärchen "Die Schöne und das Biest", aber nicht nur. Es geht um einen Helden, dessen Kommen von einer Prophezeiung vorhergesagt wurde, der aber entgegen aller Erwartungen an seiner Bestimmung scheitert. Welche Geschichte, fragte ich mich, würde ein solcher Held haben – ein Biest, das für immer hässlich bleibt?

Ein Mammut-Projekt ist die Überarbeitung des 600-Seiten-SciFis "Roboter Engel". Die erste Fassung ist schon über sieben Jahre alt, doch die Themen in dem Buch sind so komplex, ich hatte damals noch nicht die Fähigkeiten, sie adäquat umzusetzen. Es geht um einen dystopischen Staat, der komplett auf Robotik aufgebaut ist. Hauptcharaktere sind verschiedene Roboter, die Persönlichkeitsstrukturen entwickelt haben, weswegen sie menschliche Gefühle reproduzieren können und von den staatlichen Behörden gejagt werden. Hauptthema: Kann man seine Menschlichkeit in jedem noch so grausamen System bewahren – überhaupt Menschlichkeit als eine Maschine entwickeln?

Aber am interessantesten dürfte wohl sein, was ich mit den Galgenmärchen vorhabe. Wahrscheinlich wird dieses Jahr, bis auf die erwähnte Hafermann-Geschichte, kein neues erscheinen. Für 2020 ist aber fest ein Galgenmärchen geplant. Wer "Hexensold" gelesen hat, erinnert sich vielleicht an die Geschwister Hannes und Greta, die auf "Hänsel und Gretel" basieren. Da liegt nahe, was als Nächstes adaptiert wird.

Wahrscheinlich wird es noch vor dem neuen Galgenmärchen einen weiteren Selfpublishing-Titel von mir geben, Arbeitstitel: "Staubprinzessin". Dazu wird man in den nächsten Monaten sicher mehr auf meinen Social-Media-Kanälen erfahren können, also haltet Ausschau. Auf meiner Homepage unter norabendzko.com/mein-schreiben kann man auch mehr über "Die Schönheit des Biests" und "Roboter Engel" lesen.

Literatopia: Danke für das Interview.


Autorenfoto: © Radka Klein: Nachtfrost Photography

Nora Bendzkos Website


Dieses Interview wurde von Swantje Niemann für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.