Interview mit James A. Sullivan
Literatopia: Hallo, James! Kürzlich ist mit „Die Stadt der Symbionten“ Dein dritter Science-Fiction-Roman erschienen. Was genau ist ein Symbiont? Wie unterscheidet er sich von normalen Menschen?
James A. Sullivan: Hallo, Judith! Symbionten sind bei mir im Roman Menschen, die durch ein Computerinterface, das ihnen in den Schädel implantiert wird, per Gedanken mit Maschinen kommunizieren können. Sie sind Teilnehmer einer Maschine-Mensch-Symbiose, von der sowohl die Künstlichen Intelligenzen als auch die Menschen profitieren. So konnte die Stadt Jaskandris, eine Kuppelstadt in der Antarktis und die letzte Zuflucht der Menschheit, jahrhundertelang als selbstversorgendes und selbstregulierendes System überstehen. Dort sind die Symbionten in Fakultäten organisiert, deren Fokus auf unterschiedlichen Technologien ruht.
Die „normalen Menschen“, die Nicht-Symbionten, können vieles, was den Symbionten möglich ist, nur über diverse Clients erreichen, die sie im Grunde wie unsere Smartphones bedienen. Für Symbionten findet viel der Kommunikation im Kopf statt. Dabei können sie sich nicht nur per Gedanken mit Maschinen austauschen, sondern auch mit anderen Symbionten. Wegen all dieser Unterschiede erleben Symbionten die Stadt anders als die Nicht-Symbionten. Natürlich gibt es durch die Unterschiede auch Konflikte, die im Roman nach und nach in den Vordergrund rücken.
Literatopia: Wie bereits bei „Chrysaor“ und „Die Granden von Pandaros“ spielen Künstliche Intelligenzen eine große Rolle, allerdings eine andere als in Deinen beiden Space Operas. Was fasziniert Dich an dem Thema? Und wie können wir uns die KIs in „Die Stadt der Symbionten“ vorstellen?
James A. Sullivan: In den beiden Space Operas hielten sich die KIs eher im Hintergrund und zogen dort zum Wohl der Menschheit die Fäden. In „Die Stadt der Symbionten“ sind die KIs als Kollektiv für die Symbionten spürbar und ihre Motive sind zweifelhaft und geheimnisvoll. Sie schlummern im Maschinenkern der Stadt und steuern mithilfe der Symbionten die Reaktoren unterhalb der Stadt, die Schildgeneratoren für die Kuppel, die die Stadt nach außen hin abschirmt; und auch die Versorgungssysteme generell werden von ihnen gesteuert. Unsere Hauptfiguren kommen dem Geheimnis der KIs auf die Spur und legen allmählich ihre Motive offen.
Das Thema „Künstliche Intelligenzen“ finde ich grundsätzlich interessant, auch wenn ich skeptisch bin, dass wir tatsächlich einmal eine Allgemeine Künstliche Intelligenz erschaffen können, die uns die technische Singularität beschert. Das, was wir heute KI nennen, hat damit wenig zu tun. Echte Künstliche Intelligenzen sind in meinen Romanen eher eine Abbildung von Machtinstanzen. In „Die Granden von Pandaros“ und „Chrysaor“ geht es um einen Gebrauch von Macht, der positiv ist, von dem wir aber noch weit entfernt sind. In „Die Stadt der Symbionte“ geht es im Grunde um Machtmissbrauch und die Frage, wie wir als Individuen zu einem System stehen, das uns zwar Sicherheit und Ruhe verspricht, aber bereit ist, dafür notfalls alles andere über Bord zu werfen.
Literatopia: Warum hast Du die riesige Eiswüste der Antarktis als Setting gewählt? Und wie sieht der Alltag in Jaskandris, der „Oase im ewigen Winter“, aus?
James A. Sullivan: Bei der Grundidee zum Roman ging es um eine Kuppelstadt in einer Eiswüste. Das war einfach ein Bild, das ich ungeheuer interessant fand. Und der Ort, der perfekt auf diese Idee passt, ist das Polarplateau in der Antarktis. Es gibt im Roman unterschiedliche Erklärungen, warum die Stadt ausgerechnet dort erbaut wurde, aber was nun stimmt, möchte ich nicht lieber verraten. Die Figuren erschließen sich das im Roman Schritt für Schritt.
Das Leben in Jaskandris unterscheidet sich oberflächlich betrachtet erst einmal gar nicht so sehr vom Leben in einer realen Großstadt – mit ein paar entscheidenden Unterschieden: Es gibt ein bedingungsloses Grundeinkommen, wodurch die Menschen ihren Vorlieben nachgehen können, aber sie können sich durch verschiedene Jobs Geld und Privilegien dazuverdienen. Nanomaschinen dämmen das Altern der Menschen ab vierzig ein, und die daraus resultierende Platzknappheit hat zu einem besonderen System geführt, das alles prägt: Für jedes neugeborene Kind muss sich ein Familienmitglied in den sogenannten Tiefenschlaf (eine Kryostase) in den Eiskammern unter der Stadt begeben. Für jeden, der sterben sollte, darf jemand geweckt werden.
Es gibt auch viele, die nach Jahrzehnten oder sogar nach Jahrhunderten des Lebens überdrüssig werden und sich eine Auszeit nehmen, damit andere Familienmitglieder aus dem Tiefenschlaf geweckt werden können. Das führt natürlich dazu, dass zum Beispiel Kinder in der Stadt relativ selten sind. Manche Menschen melden sich sogar für den Tiefenschlaf, um zum Symbionten gemacht zu werden; denn das Computerinterface – die sogenannte Maschinerie – ist nötig, um in den Tiefenschlaf versetzt zu werden. Einmal im Tiefenschlaf kann man entweder ohne Bewusstsein die Zeit überspringen oder aber man kann sich sofort oder nach einer festgelegten Zeit (gewissermaßen im Halbschlaf) durch künstliche Welten bewegen. Diese sind zwar so vielfältig wie Videospiele, aber sie stehen der Realität in ihrer Komplexität in jeder Hinsicht nach. Wer aus dem Tiefenschlaf erwacht, ist von der Fülle der Eindrücke, die sich selbst auf begrenztem Raum entfalten, überwältigt und muss seine Sinne erst einmal wieder daran gewöhnen.
Literatopia: In „Die Stadt der Symbionten“ arbeitest Du mit vielen Perspektivenwechseln. Welche Charaktere sind dabei die wichtigsten? Würdest Du sie uns kurz vorstellen?
James A. Sullivan: Die beiden wichtigsten Figuren sind Gamil Dellbridge und Yaldira Wescovich. Sie sind Symbionten und zudem die Hoffnungsträger zweier Fakultäten – der Yardenidischen und der Nelmurianischen. Gamil hat sich vor hundert Jahren freiwillig in den Tiefenschlaf versetzen lassen, damit seine Schwester geboren werden konnte. Nach hundert Jahren hat seine Schwester sich ihrerseits in den Tiefenschlaf begeben, um ihrem Bruder etwas zurückzugeben. Sie teilen sich gewissermaßen ein Leben, sind sich aber noch nie begegnet.
Yaldira hat auch Jahrzehnte im Tiefenschlaf verbracht und wurde dort in den künstlichen Welten von der legendären Nelmura unterwiesen, der Gründerin und Archontin der Nelmurianer, die seit Jahrhunderten im Tiefenschlaf liegt und von dort aus gelegentlich Einfluss nimmt. Yaldira gilt als größtes Talent der Fakultät, und viele sehen in ihr bereits die neue Dekanin.
Als Gamil einem geheimnisvollen Flüstern folgt, das sich unter die Signale der Stadt mischt, kommt er einem Geheimnis auf die Spur, das nicht nur ihm, sondern auch Yaldira und bald die ganze Stadt in Schwierigkeiten bringt. Dabei kommen dann nach und nach die anderen Figuren ins Spiel:
- Nelmura die legendäre Archontin, die erwacht und in Gefahr schwebt.
- Othao Merrell, der Dekan der Nelmurianer, der Nelmura und auch Yaldira loswerden will.
- Clement Glazer, der Dekan der Yardeniden, der seinem Schützling Gamil helfen möchte, ohne dabei aber seine Fakultät in den Ruin zu führen.
- Myron Hermansen, Inspector bei der Polizei, der endlich mal wieder einen richtigen Fall zugewiesen bekommt – eine Entführung, hinter der sich aber etwas ganz anderes verbirgt und bei deren Aufklärung er einen neuen und erschreckenden Blick auf seine Kollegen und das ganze System erhält.
Daneben gibt es noch weitere Figuren, wie zum Beispiel Gamils Freunde, die durch den Kontakt mit ihm in Lebensgefahr geraten und bei denen sich im Einzelfall entscheidet, inwiefern sie zu ihm stehen.
Viele Perspektiven zu verwenden ist dabei wie immer ein erzählerisches Risiko, aber als Leser merke ich bei Romanen, bei denen es funktioniert, dass die Welt für mich greifbarer wird – vor allem, weil verschiedene Figuren die gleichen Dinge ganz unterschiedlich einordnen und dadurch die Vielfalt der Erzählwelt deutlich wird.
Literatopia: Deine Charaktere sind sehr unterschiedlich, das Zusammenleben verschiedener Ethnien ist in Jaskandris ganz normal. Frauen und Männer erscheinen gleichberechtigt und neben vielen heterosexuellen gibt es auch ein paar homosexuelle Figuren. Wie wichtig war Dir die Diversität in Deinem Roman? Hast Du bewusst darauf geachtet?
James A. Sullivan: Auf Diversität zu achten ist für mich ein ganz normaler Teil des World Buildings. Aber ich würde jetzt nicht sagen, dass ich das besser mache als andere. Ich kann das sehr schlecht einschätzen. Der Roman zeigt einfach eine diverse Gesellschaft, bei der manches sichtbar wird, ohne dass darüber diskutiert wird. Es stört sich zum Beispiel niemand daran, dass Frauen in Machtpositionen sind. Es ist einfach so. Und wenn der Prodekan der Yardeniden – Larson Soltmann – seinen Ehemann umarmt, weil er erleichtert ist, dass dieser nun in Sicherheit ist, dann finden die anderen Figuren das nicht ansatzweise ungewöhnlich, sondern nachvollziehbar. Und niemand sagt oder denkt dann: „Muss der das so offen zeigen?“, während neben ihm der Dekan seine Frau umarmt. Das mag erst einmal wie eine Kleinigkeit erscheinen, aber ein Problem von Marginalisierten ist, dass viele Leute zwar behaupten, dass sie offen und tolerant sind, dann aber abweisend reagieren, wenn Marginalisierte auch nur mit Kleinigkeiten sichtbar werden, Raum einnehmen und die Dinge tun, die sie selbst ganz selbstverständlich tun. Die scheinbare Großzügigkeit gilt oft nur so lange, wie eine Distanz herrscht. Ich möchte jetzt aber nicht behaupten, die Gesellschaft, die ich zeichne, sei eine Utopie; und ich gehe durchaus darauf ein, dass alle Errungenschaften immer wieder zur Debatte stehen und altes, längst überwundenes Denken, sich wieder breitmacht, wenn man dem nichts entgegenstellt.
Literatopia: Wie oftmals in der Science Fiction ist es eine große Katastrophe, die die Menschheit vereint und die Unterschiede zwischen verschiedenen Völkern unbedeutend werden lässt. Glaubst Du, die Menschen können auch ohne Katastrophe zu einem friedlichen, respektvollen Miteinander finden?
James A. Sullivan: Auch wenn mich als progressiver US-Amerikaner die Trump-Präsidentschaft aus der Bahn geworfen hat und mich um die amerikanische Demokratie bangen lässt, glaube ich, dass ein solches Miteinander unabhängig von Katastrophen möglich ist. Aber das kommt nicht von allein, sondern wir müssen daran arbeiten. Früher dachte ich, dass die Dinge, die die Generationen vor uns mühsam erkämpft haben, für immer bleiben werden. Aber wir leben inzwischen in einer Zeit, in der jede noch so ignorante Position realistisch geworden ist und jedes sicher geglaubte Recht leicht infrage gestellt werden kann. Genau genommen müssten wir uns aber fragen, ob wir gerade überhaupt in einer Welt ohne Katastrophe leben.
Literatopia: Während des Schreibens von „Die Stadt der Symbionten“ hast Du unter anderem viel von Klayton alias Scandroid gehört. Inwiefern inspiriert Dich Musik?
James A. Sullivan: Musik inspiriert mich in jedem Bereich der Arbeit. Ich höre gerne Musik zur Einstimmung aufs Schreiben, ich höre gerne Musik (vor allem Soundtracks) während des Schreibens, und ich lasse die Arbeit auch gerne mal mit Musik ausklingen. Bei „Die Stadt der Symbionten“ habe ich tatsächlich u. a. Scandroid gehört. Auch wenn mein Roman im Jahr 2756 spielt, habe ich mich oft mit dem Song „2517“ eingestimmt. Zum Ausklingen habe ich oft die färöische Sängerin Eivør gehört.
Während des Schreibens höre ich gerne Soundtracks, die zur Stimmung passen oder mir einfach ein gutes Gefühl geben. Diesmal waren es zum Beispiel der Soundtrack zum Film Oblivion von M83 und Oldschool-Elektronik aus den 70ern und 80ern – zum Beispiel „Chip Meditation I & II“ von Software. All das hat mir dabei geholfen, mich in die Erzählwelt hineinzuversetzen. Auch bei den Vorbereitungen zum Roman höre ich gerne Musik – diesmal vor allem die Band TesseracT mit ihrem Album „Polaris“; und ihr Album „Sonder“ hörte ich gerne, ehe ich mich an die Überarbeitung machte.
So sehr mich Musik inspiriert: Es gibt auch oft Tage, an denen ich nichts hören will. Besonders bei den letzten Durchgängen, wenn ich die Dinge allmählich festklopfe, bevorzuge ich manchmal Stille.
Literatopia: Du meintest mal, es wäre gut, wieder einen Fantasyroman zu schreiben – ist etwas Konkretes in Arbeit? Und warum nicht wieder SF?
James SA. ullivan: Im Augenblick zeichne ich mich durch meine Unentschlossenheit aus. Ich arbeite an einem Langzeitprojekt, einem Fantasy-Roman, zu dem ich immer mal wieder zurückkehre. Und irgendwie habe ich gerade ungeheuer viele Ideen, mache Notizen und schreibe dann Exposés. Und im Größenwahn glaube ich, das alles umsetzen zu können. Aber mal schauen, was die Verlage interessiert. Ich glaube, nach drei Science-Fiction-Romanen zieht es mich tatsächlich zur Fantasy. Ich vermisse es ein bisschen, und zudem gibt es Leser*innen, die meine SF-Romane nicht lesen und mich fragen, wann ich denn mal wieder einen Fantasy-Roman schreibe.
Literatopia: Science Fiction hat es schwer in Deutschland, insbesondere wenn das Buch auch noch aus deutscher Feder stammt. Woran liegt das Deiner Meinung nach? Ist SF zu speziell für die Masse? Oder gibt es schlicht zu viele Vorurteile á la „zu viel Technik“?
James A. Sullivan: Vorurteile spielen sicherlich eine große Rolle, aber sie entsprechen selten der Realität. Denn eines ist die Science Fiction definitiv nicht: Sie ist nicht zu speziell für die Masse, denn überall, wo ich hinschaue, sehe ich Science Fiction: SF-Filme, SF-Serien und SF-Videospiele. Überall ist Science Fiction. Es gibt Leute, die sagen dir, dass sie keine Science-Fiction-Bücher lesen, erklären dir dann aber, wie toll sie „The Hunger Games“ und andere Dystopien gefunden haben. Es ist im Grunde nur eine Frage der Wahrnehmung. Oft sind es einfach auch nur Berührungsängste. Das Vorurteil, dass SF zu viel Technik enthalte, ist in etwa so wie das Vorurteil, dass Krimis zu blutig seien: Ja, es gibt blutige Krimis, aber sie machen nicht das gesamte Genre aus. Dementsprechend gibt es natürlich Science Fiction, bei der die Wissenschaft die Hauptrolle spielt, aber das ist nur ein Teil des Genres und nicht einmal der größte Teil. Die meisten Romane handeln in der SF wie in andern Genres von Figuren, die in einer Gesellschaft in Konflikte geraten.
Was es braucht, sind Ansatzpunkte für Leser*innen, die nicht so recht wissen, wie sie sich dem Genre nähern sollen. Und davon gibt es eigentlich genug. Die Leser*innen müssen sie nur finden. Und in der heutigen Zeit ist es nicht leicht, auf sich und den eigenen Roman aufmerksam zu machen – besonders wenn das Medium Buch mit anderen Medien in Konkurrenz steht.
Literatopia: Welcher Roman hat Dich zuletzt richtig begeistert – und warum?
James A. Sullivan: Richtig begeistert? Das ist eine hohe Messlatte. Aber ich glaube, richtig umgehauen hat mich zuletzt „The Underground Railroad“ von Colin Whitehead. Da geht es um eine Alternate History der USA, bei der das Netzwerk der Fluchtwege und Unterschlüpfe, über das Sklaven in die Nordstaaten fliehen konnten und das man als underground railroad bezeichnet, wörtlich genommen wird. Es gibt da tatsächlich unterirdische Bahnlinien, über die Sklaven in die Freiheit gelangen. Und wir verfolgen das Schicksal einer Sklavin, die diesem Weg folgt. Das hat mich auf so vielen Ebenen berührt, dass ich von Begeisterung reden kann. Besonders das englischsprachige Hörbuch kann ich empfehlen. Das gibt dem Roman noch einmal eine ganz andere Dimension.
Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!
James A. Sullivan: Es war mir ein Vergnügen! Vielen Dank für die Fragen!
Autorenfoto: Copyright by James Sullivan
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Interview mit James A. Sullivan (März 2016)
Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.