Die Aussprache (Miriam Toews)

toews aussprache

Hoffmann und Campe, 2019
Originaltitel: Women Talking (2018)
Übersetzt aus dem kanadischen Englisch von Monika Baark
Gebunden, 256 Seiten
€ 22,00 [D] | € 22,70 [A] | CHF 31,90
ISBN 978-3-455-00509-7

Genre: Belletristik


Rezension

In den Jahren von 2005 bis 2009 haben in der Mennoniten-Kolonie von Manitoba im Osten Boliviens acht Mennoniten Mädchen und Frauen nachts betäubt und sexuell missbraucht. Spuren von Vergewaltigungen und körperlichen Misshandlungen waren sichtbar, die Opfer wachten morgens mit Schmerzen und Wahrnehmungsstörungen sowie Spuren von Fesselungen auf, ohne Erinnerungen an die vorhergehende Nacht. Mitglieder der Kolonie verharmlosten die Ereignisse, warfen den Frauen vor, Affären verheimlichen zu wollen, hysterisch zu sein, zu lügen. Auch wurde behauptet, sie seien von Dämonen heimgesucht worden, oder von Gott für ihre Sünden bestraft worden. Schließlich wurde die Wahrheit doch entdeckt, die Taten gingen als „Geister-Vergewaltigungen“ durch die Medien. Im Jahr 2011 wurden die acht Männer vor Gericht schuldig gesprochen. Offiziell festgestellt wurden 130 Opfer.

Die Aussprache, der neue Roman der säkularen Mennonitin und Kanadierin Miriam Toews, erzählt nicht von diesen Verbrechen, sondern davon, was danach geschieht. Toews schreibt im Vorwort, ihr Buch sei „eine fiktionale Reaktion auf diese Ereignisse“ und ein „Akt der weiblichen Phantasie“. Die Täter sitzen im Gefängnis. Männer der Kolonie Molotschna sind in der Stadt, wollen auf einer Auktion Tiere verkaufen, um die Täter auf Kaution freizubekommen. Der Bischof der Kolonie, Peters, erwartet, dass die Opfer ihren Vergewaltigern persönlich vergeben und künftig friedlich mit ihnen zusammenleben. Die Frauen und Mädchen, die der Aufforderung nicht nachkommen, will Peters exkommunizieren.

Acht Frauen aus den beiden Familien Loewen und Friesen nutzen die 48 Stunden des 6. und 7. Juni 2009 bis zur Rückkehr der Männer, um ihre Handlungsoptionen zu klären und zu einer Entscheidung zu gelangen. Da sie weder lesen noch schreiben können, nimmt als Protokollführer der Außenseiter August Epp teil, Sohn vor Jahren exkommunizierter Angehöriger der Kolonie, der kürzlich wiederaufgenommen wurde. Die acht Frauen und Mädchen wollen ihren Vergewaltigern nicht vergeben. Für sie gibt es drei Handlungsalternativen: Nichtstun, Bleiben und kämpfen, die Kolonie verlassen. Die anderen Frauen haben beschlossen, nichts zu tun.

Für die Teilnehmerinnen des Gesprächs entfällt diese Option schnell. Sie halten Nichtstun für eine Sünde, weil sie damit einen Konfrontationskurs einschlagen würden, der zu Gewalt gegen sie oder die Männer führen und damit dem Grundgedanken des Pazifismus widersprechen würde. Während die Frauen ihre Handlungsoptionen diskutieren, erfahren wir von dem, was sie ertragen mussten und noch ertragen sollen. Salome Friesen, die Mutter der dreijährigen Miep, ist bereit, den Vergewaltiger der Kleinen zu töten. Für sie ist Pazifismus indiskutabel geworden. Sie will auf jeden Fall die Kolonie verlassen, weniger wegen ihres Missbrauchs, sondern weil Peters Miep, die eine Geschlechtskrankheit bekommen hat, jede medizinische Behandlung verweigert, aus Angst, der Arzt könne über die Kolonie tratschen und die Sache mit den Überfällen „unnötig aufbauschen“.

Die Gespräche der Frauen setzen verschiedene Argumente gegeneinander, erwägen das Für und Wider. Das hört sich kopflastig an, ist jedoch spannend und oft komisch inszeniert. Greta baut immer wieder Geschichten über ihre beiden Pferde Ruth und Cheryl ein, zwei Frauen gleiten ab in Streitereien, weil sie einander wenig leiden können. Die Jugendlichen Nietje Friesen und Otje Loewen versuchen der gelegentlich aufkommenden Langeweile durch Wettbewerbe zu entgehen. In Momenten erinnert Toews Buch an eine modern und teils mit Komik versehene philosophisch-dialogische Betrachtung, wie sie beispielsweise aus antiken griechischen Dialogen bekannt ist, auch an die Bekenntnisse des Augustinus.

Die Kolonie erzeugt eine insulare Situation. Die Frauen sind zu Gehorsam gegenüber den Männern verpflichtet, sie können nicht lesen und schreiben, die einzige maßgebliche Schrift ist die Bibel, die sie allein durch den männlichen Herrschaftsfilter vermittelt bekommen. Manche Frauen stellen die männliche Deutungshoheit über die Bibel in Frage. Wie sollen sie überprüfen können, ob die Bibel tatsächlich so zu verstehen ist, wie die Männer behaupten?

Die Macht, die die mennonitische Gemeinde über ihre Mitglieder hat, wird, insoweit es um die grundlegenden Fragen der Frauen geht, auch deutlich an August Epp. Er hat viele Jahre außerhalb der Gemeinschaft gelebt, die Welt kennengelernt, im Gefängnis gesessen, studiert, ist Lehrer. Und auch er befindet sich in einer Situation ständiger Selbstzweifel und gelegentlicher Suizidgedanken. Schließlich kam er in die Gemeinde zurück, wo Peters ihn aufgenommen hat, weil er ihn als Lehrer braucht. Die Frauen, die über ihre Loslösung von der Kolonie sprechen, kennen im Grunde nichts Anderes, sie wissen nicht, was nach Verlassen des näheren Umfeldes auf sie wartet.

Die starke Konditionierung der Frauen zeigt sich auch im Umgang mit August. Dass er ein Mann ist, wird grundlegend in Zweifel gezogen. Ein echter Mann macht Feldarbeit, dominiert und schwängert seine Frau möglichst fortlaufend. August hat keine Frau und keine Kinder, weshalb Klaas ihn fragt, ob ihm klar sei, was er „da zwischen den Beinen“ habe. Und arbeiten könne er auch nicht. Als wäre dies noch nicht fragwürdig genug, reproduzieren die Frauen dieses Männerbild. Sie machen sich überwiegend gar über ihn lustig, obwohl er der einzige Mann ist, der ihnen hilft. Er beantwortet ihnen Fragen, verhilft ihnen zu einer Landkarte und zeigt ihnen, wie sie diese lesen müssen. Schließlich bringt er ihnen bei, den Sternenhimmel zur räumlichen Orientierung zu nutzen.

August hat einen liebevollen Blick auf die Frauen, auch wenn sie ihn nicht ernst nehmen. Er kommentiert seine Aufzeichnungen, wo er dies für notwendig hält. Er erwähnt Auffälligkeiten im Verhalten der Frauen. Ona Friesen spricht so, als würde sie ihre Gedanken am Ende eines Satzes zurücknehmen, indem sie die ausgesprochenen Worte wieder einatmet. Zwei Mädchen verstoßen in Abwesenheit der Männer gegen die Kleidervorschriften, indem sie ihre Strümpfe bis zu den Knöcheln herunterrollen. August liebt Ona, die schwanger ist von einem ihrer Vergewaltiger, die unverheiratet ist und nicht mehr Jungfrau, weshalb sie keinen Ehemann mehr bekommt und von manchen aus der Kolonie als Hure bezeichnet wird.

Das große Problem der Frauen bei der Abwägung ist, dass die Vergewaltigungen in einer Schutzzone verübt wurden, in der Vertrauen und Glaube Grundpfeiler sind, in der die Ehemänner und Brüder die Täter sind, die Führungsebene alles vertuschen wollte und die Opfer zu einer spezifischen Unterwerfungshandlung zwingen wollen. Heimat sieht anders aus. Die Behandlung männlicher sexueller Gewalt gegen Frauen erzeugt nach 2017 geradezu die Nähe zur #MeToo-Debatte, dürfte auch gelesen werden als Kommentar zu dieser Debatte, die literarisch ihren Ausdruck vor allem in feministischen Dystopien findet. Eine solche ist Die Aussprache natürlich nicht, auch wenn der Roman mitunter in diesem Kontext rezipiert wird. Er hat nichts mit der Trump-Ära zu tun, er schreibt nicht Gegenwartsverhältnisse in die Zukunft fort, sondern greift ein mehrere Jahre zurückliegendes reales Geschehen auf.

Wie sich die Frauen bei Toews am Ende entscheiden, soll hier nicht verraten werden. Im zugrunde liegenden realen Fall sind sie in der Kolonie geblieben und haben nicht für Veränderungen gekämpft. Und während die Täter im Gefängnis saßen, fingen die Vergewaltigungen einem Bericht aus dem Jahr 2013 zur Folge wieder an.


Fazit

In einer mennonitischen Kolonie wurden Frauen und Mädchen über Jahre vergewaltigt und körperlich misshandelt. Nach langdauernden Vertuschungsversuchen wurden die Täter gefasst und der Justiz übergeben. Acht der Opfer führen ein Gespräch über ihre künftigen Möglichkeiten in der Kolonie und treffen am Ende eine Entscheidung. Frauen, die sich im männlichen Herrschaftsraum unterordnen müssen, gelangen in die Position, sich zu artikulieren.


Pro und Kontra

+ intelligente dialogische Aufbereitung eines düsteren Themas
+ hervorragende Charakterentwicklung

Wertung:sterne4.5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5