Zürich 1994 (Print), 2016 (ebook)
Diogenes
Originaltitel: Rose’s Last Summer (1952)
Übersetzung von Nikolaus Stingl
Taschenbuch, 321 Seiten
ISBN 978-3-95835-197-4
Genre: Mystery
Die Rezension basiert auf der englischen ebook-Ausgabe von Syndicate Books (2017), aus der auch eine Passage übersetzt wurde.
Rezension
Die 52-jährige Rose French lebt seit einem halben Jahr in der Pension von Blanche Cushman in der Kleinstadt La Mesa, hundert Meilen von Hollywood. Früher war sie ein bekannter Filmstar, bis sie mit vierzig ihr natürliches Verfallsdatum erreichte. Sie hofft immer noch auf eine neue Filmrolle. Wegen ihres Alkoholkonsums und gelegentlicher aggressiver Ausraster kümmert sich der psychiatrische Sozialarbeiter Frank Clyde um sie. Er hält sie nicht für gestört, nur für eine alternde Frau, die einen Job braucht. Überraschend verkündet Rose, Arbeit als Haushälterin bei einem Freund gefunden und einen Abschlag bekommen zu haben. Sie zahlt die ausstehende Miete und packt ihren Koffer.
Am nächsten Tag findet ein Gärtner ihre Leiche samt Koffer und Handtasche neben dem Lilienteich des Pearce-Anwesens in La Mesa. Tod durch Herzattacke, lautet das Ergebnis von Pathologe Dr. Severn. Es gibt Fragen. Was wollte Rose in dem Garten des Pearce-Anwesens, das gerade als Sommerhaus an die Goodfields vermietet ist, Puppenfabrikanten aus San Francisco. Hatte Rose Kontakt zu Willett Goodfield, seiner Frau Ethel oder seiner Mutter Olive? Warum hat sie ihr Herzproblem verschwiegen? Und wie konnte sie Frank anrufen und ihm eine Postkarte schicken, obwohl sie zu dem Zeitpunkt laut Dr. Severn schon tot war?
Frank will der Sache auf den Grund gehen. Er verdächtigt Haley Dalloway, den ersten von Roses fünf Ehemännern. Rose hatte Dalloway und das gemeinsame Baby Lora vor mehr als dreißig Jahren nach einem folgenschweren Streit im Stich gelassen. Dalloway ist aus Boston angereist, angeblich auf der Suche nach Lora, die wie ihre Mutter Schauspielerin werden will. Frank und Dalloway verdächtigen sich gegenseitig, Captain Greer von der Polizei verdächtigt ebenfalls Dalloway, alle drei verdächtigen die Goodfields, in Roses Tod involviert zu sein. Im gerichtlichen Verfahren wischt der Untersuchungsrichter sämtliche Fragen beiseite und stellt fest, dass Rose eines natürlichen Todes starb. Damit scheint die Sache erledigt, bis die alte schwerkranke Mrs. Olive Goodfield entführt wird und in der gleichen Nacht das Goodfieldsche Dienstmädchen Ada Murphy verschwindet.
Rose wird eingeführt als alternder Filmstar, deren Leben sich seit zehn Jahren unmerklich auf dem absteigenden Ast befindet. Sie hat kein Geld, keine Freunde und keine Familie. Ihr einziger Pluspunkt ist ihre Vergangenheit als Star, von der sie noch immer profitiert, zumindest bei Vertretern der älteren Generation wie Mrs. Cushman. Sie spielt die Entertainerin, mit den Bewohnern der Pension oder Frank als Publikum. Dabei hält sie sich eng an ihr Script, auch gegenüber Frank nicht, der nach ihrer Ansicht in ihren Geheimnissen herumschnüffeln will. Die Jüngeren erinnern sich nicht mehr an sie. Sie sonnt sich in ihrem alten Glanz, ist impulsiv, gibt ihre Fehler zu, würde aber nie etwas ändern.
Um ihre vielen Schuldgefühle gegenüber ihrem ersten Mann zu ertragen, hat sie sich überredet, ihm die Schuld zu geben. Dieses Prinzip hat sie zu einem Muster verfestigt, das sie in allen Krisenlagen anwendet. Sie folgt ihren Impulsen, weshalb Frank sie realer als irgendeinen anderen Menschen nennt. Doch mit ihrer Rücksichtslosigkeit stellt sie eine Gefahr für andere und für sich selbst dar. Millar baut Rose als Hauptfigur auf, um uns am Ende des ersten Kapitels antiklimaktisch mit ihrem überraschenden Tod zu konfrontieren. Rose verschwindet, dafür wird durch Dalloway ihr Alter ego Lora eingeführt, eine Frau mit der gleichen psychopathischen Ader.
Dalloway zeichnet ein realistisches Bild seiner Tochter als Idealistin ohne Ideale, als Rebellin ohne Grund. Sie möchte Spaß, Aufregung, Veränderung, spielt mit Menschen, verwechselt ihre Egozentrik mit Sensibilität, gibt vor, Geld zu verabscheuen, lebt aber vom Geld anderer. Dalloway hält sie für tot, weil sie ihn schon länger nicht mehr angepumpt hat. Roses erste Familie hat sich schon vor Jahrzehnten aufgelöst, doch die Feindseligkeiten haben Bestand und auch das dunkle Geheimnis ihrer Trennung, das es zu entschlüsseln gilt.
Margaret Millars Roman spielt in einer Kleinstadt an der Westküste Kaliforniens und in San Francisco. Dorthin fährt Frank in Dalloways Auftrag, um mehr über den Goodfield-Clan zu erfahren. Mit Shirley und Jack werden Willetts Geschwister eingeführt und man erfährt mehr über die familiäre Dynamik. Mit den Goodfields kreiert Millar eine Familie nach dem Muster: dominante Mutter, rebellische Tochter, schwacher Sohn. Bei den Willetts sind beide Söhne schwach. Das Muster ist durchaus klassisch, ebenso wie die Hass-Ehe von Willett und Ethel. Die Probleme der Goodfield-Kinder werden genüsslich seziert, ebenso wie ihr Umgang damit. Millar assoziiert die Goodfields mit einer Rückwärtsgewandtheit, die fatal ist. Die väterliche Fabrik ist im ökonomischen und baulichen Verfall begriffen, die alte Familienvilla wird von den sie umgebenden Neubauten umzingelt und nahezu erdrückt. Mit ihren Antiquitäten, der Dunkelheit und Kälte erinnert sie an ein Museum oder an eine Gruft.
Der Aufeinanderprall der Goodfields und der Dalloways führt zu einer Dynamik der Ereignisse, die einem Vexierspiel ähnelt, in dem Realität und Inszenierung ununterscheidbar und Identitäten unklar sind und niemand weiß, wem aus der Familie er trauen kann. Millar erzählt ihre Geschichte schnell und präzise, treibt sie mit Dialogen voran, malt die psychologisch fundierten Muster sorgfältig und lebensnah aus, mitunter satirisch grell. Ihr knapper Stil erinnert an Chandler und Hammett, ebenso ihr schneidender Witz und die Bissigkeit ihrer Figuren. "Ich bin sicher, er würde dich nicht fallen lassen. Außer in ein nettes, tiefes Loch", sagt Shirley zu ihrem Bruder Jack über ihren Bruder Willett.
Fazit
Spannender und unterhaltsamer Thriller über den mysteriösen Tod einer abgehalfterten Hollywood-Schauspielerin und ein ketzerischer Familienroman aus dem Genre "Domestic Suspense".
Pro und Kontra
+ originelle Idee, überraschende Auflösung
+ psychologisch fundierte Figuren
+ großartiges Plotting
+ schneidender Witz, satirisch
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 5/5
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