Scherz, 2019
Originaltitel: El silencio de la ciudad blanca (2018)
Übersetzung von Alice Jakubeit
Klappbroschur, 576 Seiten
€ 15,00 [D] | € 15,50 [A] | CHF 23,90
ISBN 978-3-651-02588-2
Genre: Kriminalroman, Thriller
Rezension
Während Archäologen in der Catedral Santa Maria, der alten Kathedrale in der Innenstadt von Vitoria im Baskenland, Restaurationsarbeiten durchführen, finden sie in der Krypta zwei nackte Leichen, einen jungen Mann und eine junge Frau, jeweils mit einer Hand an der Wange des anderen. Da offensichtlich ein Doppelmord vorliegt, übernehmen Inspector Unai López de Ayala, genannt Kraken, und seine Kollegin Inspectora Estíbaliz Ruiz de Gauna, genannt Esti, den Fall. Unai ist Spezialist für Operative Fallanalyse, Esti für Viktimologie. Beide sind hervorragende Ermittler, Freunde seit Kindertagen und decken einander bei Regelverletzungen.
Die Inszenierung der Toten erinnert an eine Serie von vier Doppelmorden, die vor zwanzig Jahren begangen wurden. Der insbesondere durch das Fernsehen populäre Archäologe Tasio Ortiz de Zárate sitzt als Täter seit zwanzig Jahren im Gefängnis. Überführt wurde er von seinem Zwillingsbruder Ignacio, seinerzeit Inspector bei der Kriminalpolizei. Opfer in der Mordserie wurden jeweils zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts, die einander nicht kannten und das gleiche Alter hatten – eine ohne Rest durch fünf teilbare Zahl. Die beiden ersten Opfer waren fünf Jahre alt. Just zwei Wochen vor dem ersten Hafturlaub Tasios scheint jemand unter seiner Anleitung die Mordserie fortzusetzen. Aber vielleicht verhält es sich mit dem Täter ja auch anders. Die Polizisten ermitteln in mehrere, teils überraschende, Richtungen.
In seinem aktuellen Fall bekommt es der Ich-Erzähler Unai mit einem Serienmörder zu tun, der offensichtlich einem Programm folgt, das vor zwanzig Jahren begann. Die zurückliegende Mordserie war ein Grund dafür, dass Unai Polizist geworden ist. Unai beginnt seine Erzählung mit dem Prolog, in dem er uns darüber informiert, dass er am Ende der Fallbearbeitung eine Kugel in den Kopf bekommen hat und dass die Mordserie über viele, viele Jahre hinweg geplant und von einem hochintelligenten Täter ausgeführt wurde. Wir erhalten also bereits auf den beiden ersten Seiten wichtige Hinweise. In der Folge erzählt Unai dann die Ereignisse der vergangenen Wochen. Er nimmt uns an die Hand und führt uns durch die Geschichte.
Besonders zu Beginn des Romans fühlen wir uns an Dan Brown erinnert. Nicht nur, insoweit beide Autoren Mystery-Geschichten erzählen, zu deren Verständnis kulturelles Wissen und ein Blick in die Geschichte nötig sind. Sondern insbesondere, weil Unai, ähnlich Browns Professor Robert Langdon, sich auch als Touristenführer betätigt. Er liefert detaillierte Beschreibungen des Ortes und der Straßen, die relevant sind, einschließlich Namen und Wahrzeichen. Und wie bei Brown wird durch diese Erklärungen die Handlung (ein wenig) ausgebremst. Ergänzend hinzu kommen zwei Karten auf den Innenseiten des Romans. Die erste Karte zeigt die Innenstadt von Vitoria mit Hervorhebung der wichtigen Straßen und Gebäude, die zweite gibt einen Überblick über die baskische Provinz Álava. Beide Karten sind für die Lektüre nützlich.
Zwar sind für das Verständnis der Tatzusammenhänge Hinweise zur Geschichte des Ortes hilfreich, weil die Schauplätze der "Opferarrangements" eine Beziehung zu den Wahrzeichen der Stadt aufweisen. Aber diese Hinweise werden an anderer Stelle als in den touristischen Exkursen geliefert. Eva García Sáenz arbeitet mit einer Vielzahl an Dopplungen, deren wichtigste sind: eineiige Zwillinge, von denen der eine den anderen einer Tat überführt hat; ein Hacker-Doppel, bestehend aus einem jungen Mann, genannt MatuSalem, und einer 67-jährigen Frau, genannt Golden Girl; zwei Ermittler, die beste Freunde sind, wobei aus beider persönlichem Umfeld ein Opfer stammt; ein Polizist und eine Polizistin, die beide Ungeborene verloren haben; zwei Mordserien mit Doppelmorden; Mario und Lutxo, zwei Journalisten im Umfeld Unais, die beide eine wichtige Rolle spielen; ein Witwer und eine (angehende) Witwe. Eins dieser Doppel wird durch Überführung in ein Dreieck in entscheidender Weise aufgebrochen.
Weiter erzählt die Autorin auf zwei Zeitebenen, der Gegenwart und der Vergangenheit, wobei die Vergangenheit wiederum in zwei Zeitebenen unterteilt ist, in 1969/70 und 1989. Die Zeitebenen werden durch insbesondere zwei Personen in entscheidender Weise verknüpft. Zum Ende hin (im letzten Viertel des Romans) wird das Beziehungsgeflecht überkonstruiert. Die Autorin hat zwei Personenverzeichnisse angefertigt. Ein kurzes befindet sich am Anfang des Buchs, ein umfangreiches ist an das Ende gesetzt. Das umfangreiche Personenverzeichnis sollte man weder vor noch während der Lektüre lesen, weil es über Beziehungen informiert, deren Kenntnis zu Aha-Effekten und Einsichten führt, auf die man bis zur Aufklärung in der Handlung verzichten sollte, insbesondere mit Blick auf die Verbindung der zeitlichen Ebenen. Die teils unklaren Familienverhältnisse sind nicht nur für die Detektionsarbeit der Leser von Bedeutung, sondern sorgen ein Stück weit auch für Spannung und manche Überraschung.
Die Ästhetisierung der Gewalt, der Serienmorde in "Die Stille des Todes", stellt darauf ab, sie ansprechend zu gestalten, Attraktivität zu erzeugen, damit die Leser sich mit dem Killer statt Opfer identifizieren können. Indem wir anfangs nichts über den Mörder erfahren, sondern nur seine Taten kurz skizziert, hingegen die arrangierten Opfer in exquisit ausgewählten Szenerien beschrieben bekommen, erhält die Darstellung der Opfer eine verführerische Komponente. Wir werden auf der Gefühlsebene angesprochen, unser Verhältnis zu ästhetischen Fragen in der Gewaltdarstellung wird Bestandteil der Beschäftigung mit der Story. Auf diese Weise werden wir veranlasst, bei der Betrachtung der Geschichte und ihrer Handlungsträger verschiedene Positionen einzunehmen, statt einfach nur auf Seiten einer Partei oder Person zu stehen.
Natürlich sympathisieren wir nicht mit dem Mörder oder bewerten seine Taten positiv. Tatsächlich sind wir die ganze Zeit auf Seiten der Hauptfiguren, des ermittelnden Ich-Erzählers und seiner Kollegin. Aber wir folgen ihnen nicht wie Lemminge durch die Handlung, sondern halten bisweilen inne, lösen uns von ihnen und erlauben uns einen anderen Blick auf Details. Wir bewegen uns nicht nahezu gleichwertig zwischen Ermittlungsinstanz und Täterinstanz hin und her, wie in Thomas Harris‘ "Das Schweigen der Lämmer", sondern beschreiten einen Hauptpfad, den wir gelegentlich verlassen, wenn wir uns von Unai lösen. Indem dies geschieht, werden wir auch immer der realen Welt entfremdet, in der Gewalt eben nichts Schönes an sich hat.
Fazit
Eva García Sáenz Kriminalroman "Die Stille des Todes" ist der erste Band einer in Spanien bereits vollständig vorliegenden Trilogie mit Inspector Unai López de Ayala, genannt Kraken. Der Fall wird in diesem Band abgeschlossen, so dass man nicht bis zum Erscheinen des zweiten Buchs warten muss. Durch seinen Umgang mit den Seiten "Täter" und "Ermittlerfiguren" ist der Roman einer der interessanteren Beiträge zum Subgenre "Serienkiller".
Pro und Kontra
+ einfallsreiches und gelungenes Krimidebüt
+ Personenverzeichnisse und Glossar
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5