Ich bin Circe (Madeline Miller)

miller circe

Eisele, 2019
Originaltitel: Circe (2018
Übersetzung von Frauke Brodd
Gebunden, 528 Seiten
€ 24,00 [D] | € 24,70 [A] | CHF 29,90
ISBN 978-3-96161-068-6

Genre: Fantasy


Rezension

Die kollektive Erinnerung an Circe dürfte sich beschränken auf den 10. Gesang von Homers Odyssee, wo die Göttin und Zauberin die Seeleute des Helden Odysseus in Schweine verwandelt. Nun mag der Gedanke naheliegen, Madeline Millers Roman Ich bin Circe würde die Geschichte von Circe und Odysseus aus weiblicher Sicht neu präsentieren. Dies stimmt zum Teil. Aber der Roman erzählt die meiste Zeit etwas anderes. Die Tochter des Sonnengottes Helios und der Okeanide Perses ist bei Miller vor allem für ihren Vater eine permanente Last. Sie eignet sich Kenntnisse in der Anwendung von Heilkräutern und Giften an. In ihr wächst eine Zauberkraft heran, die es ihr erlaubt, aus Liebe eines Tages den Fischer Glaukos in einen Gott zu verwandeln. Glaukos verändert sich daraufhin sehr negativ. Für den Olymp ist Circes Handlung eine unerträgliche Provokation. Deshalb wird sie auf die einsame Insel Aiaia verbannt.

Die Circe-Erzählung verläuft episodisch, in nahezu jedem Kapitel gibt es neue Figuren aus der griechischen Mythologie und deren Geschichten, darunter: Cousin Prometheus und seine Bestrafung in Endlosschleife, die Verwandlung der Nymphe Scylla in ein sechsköpfiges Ungeheuer, Daedalus und Ikarus, Ariadne und Circes Neffe Minotaurus, Jason und Medea, Odysseus, Penelope und Telemachos. Zusammenhang erhalten diese Episoden durch den Hintergrund, der sich beschreiben lässt als Entwicklung Circes. Als Verbannte darf sie ihre Insel auf Wunsch ihrer Schwester wegen deren Problemschwangerschaft mit dem Minotaurus einmal verlassen, muss aber jeden empfangen, der an ihre Gestade kommt. Vieles bekommt sie nur mit, weil Besucher ihr Geschichten erzählen. Besonders hervorzuheben wäre hier Hermes, der sie solange mit Tratsch und Nachrichten versorgt, wie er Lust hat, eine sexuelle Beziehung zu ihr zu unterhalten. Als sie ihm langweilig wird, verduftet er. Circe ist ziemlich heutig als jemand, der Informationen und die damit verbundenen Erfahrungen überwiegend aus zweiter Hand erhält. Es handelt sich also nicht im Kern, wie bei Homer, um eine Liebesgeschichte von Circe und Odysseus.

Durch ihr spezielles Schicksal unterscheidet sich Circe von den anderen Gottheiten vor allem durch ihre Anpassungsfähigkeit, ihre Fähigkeit zu lernen und sich zu verändern. Sie ist zeitgemäß als ambivalente Figur in Grautönen gezeichnet, die die Phase des coming of age als Hindernisparcours durchläuft. Sie beginnt als Mädchen, das von ihren Geschwistern und Eltern getriezt wird, und sie wächst zu einer Kraft heran, die in der Lage ist, sich zu verteidigen und für die Dinge einzusetzen, die ihr etwas bedeuten. Sie ist eine Göttin mit Mängeln, macht Fehler, wird Opfer hinterhältiger Menschen und rächt sich an denen, die ihr übel mitspielen. Von denen gibt es einige Kandidaten, landen doch immer wieder irgendwelche Schurken an ihren Gestaden. Dafür hilft sie dann den sterblichen Ankömmlingen, die selbst Opfer geworden sind. So kommt die junge Medea auf ihre Insel, nachdem sie ihren Bruder getötet hat, und bittet ihre Tante Circe um Reinigung von der Schuld.

Ich bin Circe reiht sich ein in eine lange Tradition von Nacherzählungen antiker Mythen aus einer Welt, in der Sterbliche und Götter einander ähnlich waren, selbstsüchtig und streitsüchtig, eitel und grausam, ungerecht, destruktiv und gewalttätig. Die griechischen Gottheiten in der Antike ähneln deshalb nicht nur den Menschen, von denen sie nach deren Vorbild geschaffen wurden, sie übertreffen sie sogar, auch, weil sie die durch ihre Unsterblichkeit bedingte innere Leere und Langeweile kompensieren wollen. Und als literarische Figuren sind sie großartige Kreationen von Poeten, ebenso wie die antiken Helden und Monster. Die mythische Figur Circe ist in unserer Wahrnehmung unabdingbar so an den großen Helden Odysseus gebunden, dass Millers Fantasy-Roman, um der Hauptfigur eine eigene Stimme geben zu können, sie weitestgehend aus diesem männlichen Narrativ lösen musste. Diese Absicht äußert sich explizit im Titel der deutschen Übersetzung: Ich bin Circe.

Einmal mehr wird in einem Roman der Gegenwart weibliche gegen männliche Macht abgegrenzt. Circe ist eine Göttin und der Zauberkraft mächtig, wird jedoch bestimmt durch Selbstzweifel und das Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit. Ihr Vater ist unnachgiebig, ihre Mutter egoistisch und unsicher. Zärtlichkeit hat Circe von ihnen nicht erfahren. Die Möglichkeiten ihrer Zauberkraft erfährt sie erst in der Verbannung. Ihr Exil ist für sie ein Ort der Gefangenschaft und zugleich ein Paradies, in dem sie lernt, im Einklang mit der Natur zu leben, mehr noch vielleicht ein Teil der Natur zu werden. Wilde Tiere, Löwen und Wölfe, werden ihre Gefährten. Die Zeit, gemessen in Jahrhunderten oder Äonen, vergeht, Fremde kommen und gehen. Ausgehend von ihrer Begegnung mit Odysseus, ungefähr nach der Hälfte der Erzählung, kommt es zu Ereignissen, die Circe zu einer substanziellen Entscheidung veranlassen und die Handlung dem Ende entgegenführen.

Circe ist auch eine Repräsentantin der Frau, die außerhalb der Gesellschaft lebt, weil sie durch ihre Abweichung vom herrschenden Rollenbild Furcht erzeugt. Somit ist sie auch ein Modell der späteren Generationen von Hexen, die fleischgewordene männliche Angst vor weiblicher Macht. Miller geht auch der Frage nach, wie Circes Entwicklung mit ihrer Familie zusammenhängt. Diese ist nicht das, was man als liebevoll, fürsorglich, beschützend bezeichnen könnte, sondern vielmehr, und das mit – ausgerechnet - Helios als Vater und Familienoberhaupt: kalt und furchterregend.


Fazit

Madeline Miller gestaltet in Ich bin Circe einer aktuellen Trendlinie folgend eine Frauenfigur, die aus dem Korsett männlich dominierter Narrative gelöst wird, eine eigene Stimme erhält und über schmerzhafte Erfahrungen eine Identitätsentwicklung vollzieht.


Pro und Kontra

+ trotz Odysseus allein Circes Erzählung
+ eine Geschichte über die Selbstfindung

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5

Tags: Antike