Der Untergang der Könige. Drachengesänge 1 (Jenn Lyons)

lyons ruin

Klett-Cotta, 2019
Originaltitel: The Ruin of Kings. A Chorus of Dragons 1 (2018)
Übersetzung von Urban Hofstetter und Michael Pfingstl
Gebunden, 864 Seiten
€ 24,00 [D] | € 24,70 [A] | CHF 29,90
ISBN 978-3-608-96341-0

Genre: Fantasy


Rezension

Jenn Lyons hat mit Der Untergang der Könige ihr Debüt und den ersten Band in der epischen Fantasy-Saga Drachengesänge veröffentlicht. Die Serie soll am Ende fünf Bücher umfassen. Der junge Dieb Kihrin wächst in den Elendsvierteln von Quur unter der Obhut des stets um ihn besorgten Surdyeh auf. Surdyeh ist ein blinder Musiker, der im Bordell von Ola arbeitet. Manchmal ist Kihrin mit von der Partie, weil er schön singen kann. Auf einem Diebeszug wird Kihrin Zeuge eines Mordes und bekommt etwas mit, was nicht für ihn bestimmt ist. Er gerät in den Fokus einer Gruppe mächtiger, korrupter Magier und wird in Ereignisse verwickelt, die sein weiteres Leben bestimmen. Er hat Begegnungen mit Dämonen, Drachen und einem Riesenkraken, mit Göttern, Magiern und einer Sekte von Attentätern. Damit einher geht eine stückweise Offenlegung der wahren Herkunft und der Bestimmung Kihrins. Er findet heraus, dass er vielleicht der Sohn eines Prinzen ist. Das Halsband, welches er trägt, ist nicht nur eine Erinnerung an seine verstorbene Mutter.

Zu Beginn der Handlung sitzt Kihrin im Gefängnis. Die folgende Abenteuergeschichte ist größtenteils als „Zwiegespräch zwischen Kerkermeisterin Klaue und ihrem Gefangenen Kihrin“ inszeniert. Sie geben die Handlung im Wechsel von Kapitel zu Kapitel wieder, während sie auf die Rückkehr von Kihrins Bruder warten. Die Wechsel erfolgen jedoch nicht als unmittelbare Anschlüsse. Der Faden wird in jedem Kapitel zu einem anderen Zeitpunkt der Handlung aufgegriffen und von dort linear fortgeführt. Das wird schnell verwirrend, wenn man den Text einfach so runterliest. Ein Stück weit erklärt sich das Vorgehen von Lyons daraus, dass Klaue eine nachvollziehbare Schilderung einfordert, die einen bestimmten Ausgangspunkt haben soll, auf den sich beide jedoch nicht einigen können.

Zu Beginn lernt man Kihrin kennen als einen Mann im Kerker, als Sklaven, der auf einer Auktion verkauft wird und als Dieb, der in ein Haus einbricht. Es gibt eine Gegenwartshandlung, in der Kihrin im Gefängnis sitzt, die beiden Zeitebenen in der Vergangenheit, schließlich eine vierte nach Abschluss der Geschehnisse, die zum Untergang der Hauptstadt führten. Ein Mann namens Thurvishar D’Lorus hat eine Niederschrift der Ereignisse erstellt, die dem Herrscher übergeben wird. Diese Niederschrift besteht aus dem über 700 Seiten langen Gespräch zwischen Kihrin und Klaue, von Thurvishar ergänzt um oftmals komische oder sarkastische Anmerkungen im Gesprächstext und um Schlussfolgerungen. Ob Thurvishar nur ein Berichterstatter ist, wird sich im Verlauf der Handlung zeigen.

Jenn Lyons Weltenbau ist einfalls- und detailreich. Sie entwickelt für ihre verschiedenen Völker und Kulturen eine Geschichte, die reich an gewalttätigen Auseinandersetzungen und großen Schlachten ist, hinzu kommen ein beeindruckendes Götterpantheon und verwickelte Politik. Es gibt viele Beziehungen, die sich oft schwierig gestalten. Grundlegend läuft in der Geschichte einer Sklavenhaltergesellschaft die Frage mit, ob der ihr vorhergesagte Untergang nicht einfach hingenommen werden sollte. Die abgebildete Gesellschaft ist dekadent, moralisch korrupt und erhält ihren Realitätsbezug nicht nur über zeitlich weit zurückliegende Referenzgesellschaften.

Kihrin ist ein Charakter, der durch sein Handeln und seine Geschwätzigkeit an Helden einer Schelmengeschichte erinnert, Klaue ist eine leicht gruselige Gestaltwandlerin und Gedankenleserin, die sich von Seelen ernährt und gelegentlich Menschenfleisch. Thurvishar leistet in seinen Ausführungen einige Beiträge zum Weltenbau und zum Verständnis der Fantasywelt, verfügt außerdem über einen interessanten Humor. Vieles von dem, was Lyons uns anbietet, ist bekannt: die geheimnisvolle Herkunft der Hauptfigur, magische Artefakte, unzuverlässiges Erzählen, Offenbarungen, die Lügen sind. Aber Lyons arbeitet mit diesen Motiven auf reizvolle Weise.

Die allem unterliegende Struktur ist die klassische Heldenreise. Die Geschichte ist nicht bestimmt durch die Handlung, sondern die Mysterien, die Offenbarungen und die Charaktere. Hinzu kommt das Übernatürliche. Bei Lyons besteht es wesentlich aus Göttern, Dämonen und Magiern, einem Machtdreieck, dessen Aussehen sich dadurch verändert, dass die Götter und Dämonen einander bekriegen und die Magier sich ständig aus Eigeninteresse einmischen. Der Roman enthält einige sehr gute Motive und besonders herausragende Szenen. Eine der besten ist die, in welcher der Drache durch Kihrins Gesang aufgeweckt wird und die Auflösung einer dramatischen Szene in eine andere dramatische Szene führt.

Es geschieht sehr viel in diesem Roman, und nicht alles ist unmittelbar einsichtig. Es gibt einige Bezüge, die man erst viele Seiten später einordnen kann. Einige Handlungsstränge sind kaum zu verstehen, weil sie (vermutlich) erst zu einem späteren Zeitpunkt eine nachvollziehbare Bedeutung erhalten. Wobei, was bedeutet später bei einem auf mehrere tausend Seiten angelegten fünfbändigen Werk, dessen Veröffentlichung ein paar Jahre dauern dürfte. Wer merkt sich alles so lange, oder, alternativ, wie oft soll man die einzelnen Bände lesen? Manche Leser mögen es nicht gut finden, dass Lyons sie einfach in die Handlung wirft, die eben nicht am Beginn beginnt, und wenige Erklärungen liefert.

Man mag ob der vielen politischen Intrigen und der Gewalt Vergleiche zu Game of Thrones ziehen. Aber Game of Thrones wird seit Jahrhunderten in der Realität gespielt, weshalb der Vergleich nicht nur in sich als Marketingargument verpufft, sondern nur geringen Aussagewert besitzt. Der Roman enthält eine Karte der bekannten Welt und vier Anhänge (Glossar, Adelshäuser, Hinweise zur Aussprache, Die Herrscherhäuser der Vané). Besonders das vierzehn Seiten lange Glossar bezieht man Nutzen stiftend in die Lektüre mit ein.


Fazit

Der Untergang der Könige ist der erste Band eines Fantasyepos, das den Lesern einen langen Atem abverlangt. Geht es mit den Folgebänden in der Qualität dieses Buchs weiter, dürfte es ein lohnendes Lektüreprojekt werden.


Pro und Kontra

+ ein Drache, wie es ihn schon lange nicht mehr gegeben hat
+ hervorragender Weltenbau, soweit absehbar
+ Tiefe und Entwicklung der Charaktere
+ durchziehender Diskurs zu freiem Willen und der Frage, in welch einer Gesellschaft man leben will

Wertung:sterne4.5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5

Tags: Drachen, Jenn Lyons