Die große Verblendung – Der Klimawandel als das Undenkbare (Amitav Ghosh)

Blessing (Oktober 2017)
Originaltitel: The Great Derangement
Übersetzerin: Yvonne Badal
Hardcover
256 Seiten, 22,99 EUR
ISBN: 978-3-89667-584-2

Genre: Sachbuch, Essay

Gelesen wurde die englischsprachige Originalausgabe.


Klappentext

Amitav Ghosh, "Meister der Sprache" (Die Zeit) und Romancier von Weltrang, fragt sich, warum der Klimawandel in der Literatur der Gegenwart nicht zur Sprache kommt. Woher rührt unsere große Verblendung, vor der künftige Generationen fassungslos stehen werden? Hat die Kunst in dieser epochalen Katastrophe ihren Meister gefunden?

Mit »Die große Verblendung« legt Ghosh ein Essay vor, das nicht nur seine Zunft, sondern uns alle auffordert, ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte zu schreiben und uns eine andere, bessere Welt auszumalen.


Rezension

„Die große Verblendung – Der Klimawandel als das Undenkbare“ teilt sich in drei Abschnitte: Der erste und längste von ihnen ist „Stories“, gefolgt von „History“ und „Politics“. Darin legt Amitav Ghosh, ein zwischen Indien und den USA lebender Schriftsteller und Journalist, dar, welche Konsequenzen der Klimawandel wahrscheinlich haben wird, und was seiner Meinung nach die Gründe für den Mangel an Verständnis und Handlungswillen in Bezug auf dieses Problem sind.

Gerade im ersten Abschnitt mischt Ghosh aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und Prognosen mit persönlichen Erfahrungen (er beobachtete einen Tornado aus nächster Nähe und hat Angehörige in einer Stadt, die von durch den Klimawandel begünstigten Sturmfluten bedroht wird) und literaturwissenschaftlichen Analysen. Er stellt die These auf, dass der westliche Roman eine Kunstform ist, die einen engen, persönlichen Fokus hat und am besten geeignet ist, um das von Wiederholungen geprägte bourgeoise Leben widerzuspiegeln. Hier gebe es keinen Platz für welterschütternde Umwälzungen und Narrative, die Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende umspannen und auch nicht-menschlichen Akteuren Raum geben, wie dies in alten Epen der Fall sei. Er bringt dies mit einer Tradition wissenschaftlichen Denkens in Verbindung, laut der Umweltveränderungen nur schleichend und unmerklich geschehen. Ghosh führt als Beispiele westliche Literaturklassiker an, aber nennt auch z.B. Namen von indischen Autor*innen, die ich in seinem Buch zum ersten Mal gelesen habe.

Im zweiten Teil geht es um die Geschichte der Nutzung fossiler Brennstoffe. Hier erfahren wir von Ölfeldern in Asien und dem Fakt, dass die Industrialisierung wohl nur deshalb kein weltweites Phänomen war, weil sie in England früher gelang als anderswo und Imperialmächte ihr Bestes taten, um die von ihnen beherrschten Länder in der Rolle von Rohstofflieferanten festzuhalten. Wieder beschreibt Ghosh Namen und Fakten, die in Deutschland eher unbekannt sind.

Der dritte Teil, „Politics“, widmet sich der Gegenwart. Hier geht es darum, wie zivile, politische und militärische Akteur*innen mit dem Klimawandel umgehen und sich auf dessen Konsequenzen vorbereiten. Ghosh unterstellt den meisten dieser Akteur*innen (meiner Meinung nach nicht zu Unrecht) großen Zynismus. Wie bereits im letzten Abschnitt verweist er auf die Verquickung von Kapitalismus und Imperialismus, die gemeinsam die aktuelle Situation verursacht habe, und die Schwierigkeit der Aufgabe, Klimagerechtigkeit zu schaffen. Er erklärt die Performativität und große Rolle persönlicher Moral im politischen Geschehen für zutiefst kontraproduktiv, weil Klimaktivist*innen dadurch unnötig angreifbar würden. Er widmet aber auch religiösem Widerstand gegen den Klimawandel, in welchem er einen Hoffnungsträger sieht, besondere Aufmerksamkeit.

„Die große Verblendung“ ist ein recht kurzes, in einem literarisch anmutenden Stil geschriebenes Sachbuch, das Literatur- und Kulturwissenschaften, aber auch Meteorologie und andere Naturwissenschaften mit Betrachtungen von Geschichte und Politik verbindet. Es eröffnet ungewöhnliche Perspektive auf die Reaktionen auf den Klimawandel und fragt, wie die Medien, die wir konsumieren, unsere Erwartungen und unseren Blick auf die Welt prägen. Bewusst oder unbewusst macht Ghosh mit seinem Fokus auf Südasien und dessen Literatur, Geschichte und Zukunft wahrscheinlich so einige Lesende (mich zum Beispiel) auf die eurozentrische Natur ihres Wissens aufmerksam. Obwohl ich nicht mit allen seinen Schlussfolgerungen konform gehe, habe ich in seinem Buch viele spannende Denkanstöße gefunden.


Fazit

In „Die große Verblendung – Der Klimawandel als das Undenkbare“ eröffnet Amitav Ghosh eine ungewöhnliche, interdisziplinäre Perspektive auf eines der wichtigsten Probleme unserer Zeit.


Pro und Contra

+ schöner Stil
+ neue Perspektive und spannende Ideen
+ vermittelt Wissen über indische Literatur und Geschichte
+ Interviews mit Wissenschaftler*innen

Wertung:

Lesespaß: 4,5/5
Informationsgehalt: 4/5
Verständlichkeit: 4,5/5
Aktualität: 5/5
Preis/Leistung: 3/5


 Rezension zu "Die Inseln"