Schwarzer Leopard, roter Wolf. Dark Star Teil 1 (Marlon James)

james schwarzerleopard

Heyne Hardcore, 2019
Originaltitel: Black Leopard, Red Wolf. The Dark Star Trilogy 1 (2018)
Übersetzung von Stephan Kleiner
Gebunden, 832 Seiten
€ 28,00 [D] | € 28,80 [A] | CHF 38,90
ISBN 978-3-86552-772-1

Genre: Fantasy


Rezension

Marlon James, geboren in Kingston auf Jamaica, wohnhaft in Minneapolis, Minnesota, USA wurde hierzulande bekannt mit Eine kurze Geschichte von sieben Morden. In diesem mit dem Booker Prize bedachten Roman geht es um die Geschichte Jamaikas und Bob Marley, um den Kalten Krieg und das Weltverständnis der USA, um viele andere Dinge mehr. Der neue Roman von Marlon James heißt Schwarzer Leopard, roter Wolf und ist der erste Band einer geplanten Trilogie. Der Finalist für die National Book Awards 2019 wird beworben als afrikanische Version von Game of Thrones. Das hilft beim Verkauf, auch wenn man weiß, dass es dabei nur um Marketing geht. Hauptsache, die Lektüre wird nicht durch daraus abgeleitete Erwartungshaltungen bestimmt.

Schwarzer Leopard, roter Wolf beginnt mit den Worten: „Das Kind ist tot. Weiter gibt es nichts zu wissen.“ Danach folgen über 800 Seiten Text. Der Protagonist nennt sich Sucher (Original: Tracker) und ist Gefangener Kamikwayos, eines ehemals zu den weißen Wissenschaftlern gehörenden Geisterbeschwörers und Alchemisten, der sich selbst in eine monströse Hybridform verwandelt hat. Kamikwayo fordert Sucher auf, ihm eine Geschichte zu erzählen, wenn er ihn am Leben lassen soll. Die Reaktion: „Ich werde dir eine Geschichte erzählen. Sie beginnt mit einem Leoparden.“

Tatsächlich aber erzählt Sucher Kamikwayo eine Vielzahl von Geschichten. Eine handelt von einem Jungen, der König werden sollte und entführt wurde. Sucher wird damit beauftragt, den Jungen zu finden und zurückzubringen. Begleitet wird er von so verschiedenen Wesen wie einem Leoparden, der Gestaltwandler ist, einer Hexe, einem Büffel, einem Riesen und einer Wassergöttin. Sucher hat sein Geld bislang mit seiner hervorragenden Spürnase verdient. Hat er einmal Witterung aufgenommen, kann er der Spur über große Entfernungen folgen. Auf dem Suchpfad gibt es Begegnungen mit einer Reihe feindseliger Menschen und Kreaturen, mit Zogbanu-Trollen aus dem Blutsumpf, mit Schattenschwingen genannten Nachtdämonen, verschiedenen vampirischen Wesen und Blitzvögeln, um nur ein paar zu nennen.

Der Ich-Erzähler präsentiert einen Monolog mit dem Fragenden als Zuhörer. Mehrere Stimmen von außerhalb füllen die Leerstellen in den Ausführungen Suchers auf. Beim Lesen hält man bisweilen inne und wundert sich über den Weltenbau von James. Während andere Fantasy ihre Welt präsentiert, scheint es sie bei James noch nicht zu geben, weil sie erst während Suchers Erzählung entsteht. Im ersten Band aber ist sie mehr Steinbruch denn Welt. Es bleibt abzuwarten, ob sich in den Folgebänden daran etwas ändert.

Die Handlung in den schönen Sätzen ist alles andere als schön. Sie ist bestimmt durch Gewalt, Vergewaltigungen und Verstümmelungen gehören zu den Konstanten in der Erzählung. Gewalthandlungen sind auf die eine oder andere Weise sexuell konnotiert. Die Ausübung von Geschlechtsverkehr zwischen zwei Menschen – es gibt auch andere Paarungen – hat im Regelfall mit der Ausübung von Macht und Kontrolle zu tun. Der Junge Sucher wird von seinem Vater misshandelt, der danach die Mutter misshandelt, weil sie dieses Kind hervorgebracht hat. Der Junge zieht irgendwann die Konsequenzen in zwei alternativen Szenarien. Im ersten Fall tötet er den Vater, im zweiten verkrüppelt er ihn. Beide Szenarien stehen gleichwertig nebeneinander. Und die Mutter fordert Sucher zu gehen auf, weil die Brüder seines Vaters noch schlimmer sind.

Längere Dialoge sucht man vergeblich, so die Figuren denn miteinander kommunizieren, geschieht dies in kurzen Sätzen, Phrasen, Halbsätzen – und eben durch Gewalt. James präsentiert eine Fantasywelt, in der die Menschen nicht die Spitzenposition in der Nahrungskette einnehmen. Schwarzer Leopard, roter Wolf erzählt eine klassische Quest. Wenn eins definitiv zutrifft, dann, dass die Handlung nicht durch eine Geschichte vorangebracht wird. James bietet keine konsequente Handlungsentwicklung. Korrespondierend ist sein Satzbau an Verben orientiert, dem verzögerten Einsatz von Substantiven, schließlich der Tatsache, dass man nicht immer gleich weiß, wer spricht.

Die Suche nach dem Jungen erscheint absichtsvoll konfus, worauf sogar im Text wiederholt von Figuren hingewiesen wird. Zudem wird im Text klargemacht, dass es bei einigen der Geschichten nicht um die Geschichte geht, um die es geht. Das Narrativ arbeitet mit inhaltlichen und zeitlichen Diskontinuitäten, mit Fragmenten, eingebetteten Textteilen. Kurze Geschichten werden teils durchnummeriert. Man spürt beim Lesen die Möglichkeit einer Geschichte, deren inhaltlicher Zusammenhang jedoch, zumindest in diesem ersten Band, nicht zu fassen ist. Sucher scheint von einer Welt zu erzählen, deren Geschichten keine große Geschichte ergeben, deren Elemente bei allen Bemühungen keine Kohärenz erlauben.

Das Buch wird oft mit Der Herr der Ringe und Game of Thrones verglichen. Das kann man machen, vor allem um festzustellen, dass es etwas ganz anderes ist. Die Figuren, der Weltenbau, der Stil und alles andere ist anders. Wer sich nicht an multiplen Abweichungen von impliziten oder expliziten Normen stört, wer keine Probleme mit einer Mischung aus schöner und obszöner Sprache hat, mit Kannibalismus, Sex mit Tieren, Folter, kurz: einer extrem schmutzigen und gewalttätigen Welt, außerdem einem Weltenbau, der nicht zu Beginn schon abgeschlossen ist, sondern während der Erzählung betrieben wird, ist Adressat oder Adressatin des Romans. Alle anderen sollten das Label „Heyne Hardcore“ mit Blick auf Sprache und Inhalt ernstnehmen.


Fazit

Marlon James erzählt in Schwarzer Leopard, roter Wolf eine verschachtelte Geschichte aus vielen Geschichten über einen Mann namens Sucher, dessen Auftrag darin besteht, einen entführten Jungen ausfindig zu machen und wieder nach Hause zu bringen. Die Suche führt ihn auf eine lebensgefährliche Reise. Das Buch hat Ähnlichkeiten mit der Märchensammlung Tausendundeine Nacht, in der es ebenfalls um das Erzählen und das Überleben der Hauptfigur geht. Afrikanische Mythen und Legenden reichern eine Erzählung an, in der es um fundamentale Fragen menschlichen Seins geht.


Pro und Kontra

+ überbordende Imagination
+ sprachlich hochinteressant

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5

Tags: Schwarze Autor*innen, Afrofantasy