Neon Birds (Marie Graßhoff)

neon birds

Bastei Lübbe (November 2019)
Paperback, 463 Seiten, 15,00 EUR
ISBN: 978-3-404-20000-9

Genre: Cyberpunk / Solarpunk / Military-SF


Klappentext

Ein Supersoldat, der seine glorreichen Tage hinter sich hat.
Ein Träumer mit einem düsteren Geheimnis.
Ein Untergrundkämpfer mit Todeswunsch.
Eine Jägerin mit Verbindung zu einer dunklen Macht.

Es ist das Jahr 2101. Ein außer Kontrolle geratener technischer Virus verwandelt Menschen in hyperfunktionale Cyborgs, sogenannte Mojas, die dem Willen der künstlichen Intelligenz KAMI gehorchen. In Sperrzonen eingepfercht, werden sie von Supersoldaten bekämpft, die man weltweit als Stars feiert.

Doch als es den Mojas gelingt, die Mauern der Sperrzonen zu durchbrechen, entflammt ein erbitterter Kampf um das Überleben der Menschheit. Und während der Kampf zwischen Menschlichkeit und Technologie hin und her wogt, versuchen vier junge Erwachsene, den Untergang ihrer Zivilisation zu verhindern.


Rezension

Kadett Luke arbeitet in einer Militärstation, die die Sperrzone in Nordchina überwacht. Seit er dort ist, ist nichts Aufregendes passiert. Die Moja – Menschen, die durch ein technisches Virus in Cyborgs transformiert wurden – verhalten sich hinter den gigantischen Mauern ruhig. Bis eines Tages ein Anschlag auf die Station verübt wird und die Tore sich öffnen. Die Moja strömen heraus und töten alle Menschen, die sich ihnen in den Weg stellen. In seiner Verzweiflung ruft Luke seinen besten Freund Flover zu Hilfe, der für eine streng geheime Militärorganisation arbeitet. Der würde am liebsten sofort losstürmen, wird jedoch dazu verdonnert, den inaktiven Supersoldaten Okijen zurück an die Front zu holen. Währenddessen kämpft die junge Jägerin Andra in ihrem Dorf mit Pfeil und Bogen gegen die übermächtigen Moja. Die vier ahnen nicht, dass das Chaos in Nordchina nur die Vorwehen eines aufflammenden Krieges sind: Die Künstliche Intelligenz KAMI, die die Cyborgs steuert, will die Menschheit optimieren und sie dabei all dessen berauben, was sie menschlich macht …

“Neon Birds“ startet mit reichlich Action und schickt seine Protagonisten in den Kampf gegen übermächtige Cyborgs. Diese sind durch diverse technische Modifikationen, wie verbesserte Sinne und Reflexe, und teils übernatürlich anmutende Fähigkeiten überlegen, verhalten sich jedoch wie ferngesteuerte Zombies und sind daher nicht unbesiegbar. Das technische Virus, das die Moja erschaffen hat, manifestiert sich in der KI KAMI, die von den meisten Menschen gefürchtet, von einigen Sekten allerdings auch als Maschinengott angesehen und angebetet wird. Mit äußerster Härte gelingt es dem Militär (noch), KAMI einzudämmen, unter anderem durch Exekution von Infizierten. Soldat Flover leidet zunehmend unter diesem Vorgehen. Seine Spezialeinheit ist dafür zuständig, Moja außerhalb der Sperrzonen zu identifizieren und zu töten. Auch solche, die noch menschlich sind. Seinen eigentlichen Traum, als Comiczeichner zu leben, muss er zurückstellen.

Luke hat sich bewusst fürs Militär entschieden und dafür seinen Lebenslauf gefälscht. Er hat das Grauen der Moja hautnah erlebt und mit der Vergangenheit nie richtig abgeschlossen. Dabei ist er für einen Soldaten fast ein zu sanfter Charakter, der sich liebevoll um seine Pflanzen und Huhn Gerta kümmert. Auch Supersoldat Okijen merkt man nicht an, dass er Talent fürs Töten besitzt. Mit nur einundzwanzig Jahren ist er bereits Colonel und ein gefeierter Star. Um gegen die Moja zu bestehen, hat er seinen Körper technisch modifizieren lassen. Diverse schwere Verletzungen haben dazu beigetragen, dass er nun selbst ein Cyborg ist, allerdings auch nach wie vor ein Mensch mit Emotionen. Okijen trägt sein Herz auf der Zunge und ist sehr empathisch, was auch Andra auffällt. Nach dem Vorfall in Nordchina hat sie alles verloren und kommt erst einmal bei ihm unter. Andra ist in einem kleinen Dorf aufgewachsen, außerhalb der modernen, hochtechnisierten Welt. Insofern ist Okijens Wahlheimat Ulan Bator für sie Neuland, das sie neugierig erkundet und sie vorerst von ihrem Schmerz ablenkt.

Alle vier Protagonisten haben ihren Reiz, auch wenn Luke anfangs etwas zu blass ist und Andra zwischenzeitlich nur Okijens Anhängsel zu sein scheint. Beide könnten jedoch im zweiten Band „Cyber Trips“ mehr Profil bekommen. Im ersten Band sind Flover und Okijen stärker und facettenreicher. Als Geheimagent besitzt Flover sehr viel spannendes Insiderwissen. Er ist pflicht- und verantwortungsbewusst, gleichzeitig entfernt er sich innerlich immer mehr vom Militär. Seine Arbeit zermürbt ihn, er zweifelt zunehmend an ihrem Sinn und am Verstand seiner Vorgesetzten. Okijen hingegen ist eine perfekte Mischung auf humorvoll, charmant und melancholisch. Man mag ihn sofort, fühlt und fiebert mit ihm mit und ist fasziniert von dem Kontrast zwischen seiner Empathie und der Brutalität des Kämpfers. Vom Klappentext her hätte man sich die Protagonisten jedoch unterschiedlicher vorgestellt. Alle vier sind in etwa gleich alt, drei sind beim Militär und Andra rutscht in diesen Kreis mit hinein. Eine andere Perspektive wäre wünschenswert gewesen.

Die Welt von „Neon Birds“ ist ein wilder Mix aus Cyberpunk und Solarpunk: Nach dem Kalten Krieg des 21. Jahrhunderts wurden alle Regierungen gestürzt und durch einen Weltrat ersetzt. Möglich wurde dies unter anderem durch die Cyber-Trip-Technologie (quasi Teleportation). Zudem hat die Menschheit mit KAMI einen gemeinsamen Feind. Klimawandel und Umweltverschmutzung haben der Erde stark zugesetzt, doch die Menschen scheinen gelernt zu haben. Großstädte wie Ulan Bator sind keine dreckigen Betonwüsten, sondern grüne Oasen mit bepflanzten Balkonen und Fassaden, die nachts in Neonfarben leuchten. Alle Konzerne wurden verstaatlicht, es gibt ein bedingungsloses Grundeinkommen und auf tierische Nahrung wird weitgehend verzichtet (wobei es hier einen blühenden Schwarzmarkt gibt). Auf den ersten Blick erscheint diese Zukunftsvision, abgesehen von der Gefahr durch die Moja, utopisch, doch wenn man genauer hinsieht, zeigen sich Sollbruchstellen und die unmenschlichen Seiten des Systems.

Das Worldbuilding ist ungemein spannend und „Neon Birds“ wartet mit vielen Anspielungen auf Klassiker der SF auf (mechanische Katzen statt elektrische Schafe). Unter den Nebencharakteren gibt es zwei sehr coole Frauen, daneben jedoch auch einige Klischees. Trotz vieler Cyberpunkelemente fehlt dem Roman das Tempo sowie die Härte und Präzision der Sprache. Auch den Cyberspace (VR und AR) vermisst man ein wenig. Zwar steckt viel Hightech in „Neon Birds“, aber es wirkt nicht alles stimmig, insbesondere bei den Moja, die als überlegen intelligent beschrieben werden, aber zunächst nur den brutalen Frontalangriff zu kennen scheinen. Thematisch erinnert „Neon Birds“ mehr an japanische Cyberpunkanimes als an westliche Cyberpunkromane. Dies schlägt sich auch in den japanischen Begriffen und der mystischen Komponente von KAMI nieder – und auch in den Zeichnungen der Protagonisten, mit denen das Buch aufgewertet wird. Dazu gibt es Steckbriefe (außer zu Andra, ein Fehler?) und zwischen den Kapiteln Informationen zu den Moja, zum Militär, hochrangigen Personen und der Historie des Virus.


Fazit

”Neon Birds“ ist ein reizvoller Mix aus Cyber- und Solarpunk. Die gesellschaftliche Utopie wandelt sich mit der Bedrohung durch die KI-gesteuerten Cyborgs in eine Dystopie, in der man nicht mehr weiß, wer der eigentliche Feind ist. Trotz reichlich Action liest sich dieser erste Band wie ein langer Vorspann, der insbesondere von der Interaktion seiner Protagonisten lebt und nach einem hochdramatischen Finale einen spannenden zweiten Band verspricht.


Pro und Contra

+ interessanter Mix aus Cyber- und Solarpunk
+ Supersoldat Okijen fasziniert ungemein
+ Flover und seine dunklen Phasen
+ die grüne, lebendige Stadt Ulan Bator
+ gesellschaftliche Utopie mit tiefen Schatten
+ dramatisches Ende, das Spannung für den zweiten Band schürt
+ großartiges Cover

- Luke und Andra verblassen zwischenzeitlich
- kleine Unstimmigkeiten / wichtige Informationen kommen spät
- im Mittelteil etwas langatmig

Extras: Zeichnungen der Protagonisten sowie Steckbriefe

Wertung: sterne4

Handlung: 3,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Cyberpunk, Solarpunk, Marie Graßhoff, Künstliche Intelligenz, SF-Autorinnen, Military-SF, deutschsprachige SF