Interview mit Marie Graßhoff
Literatopia: Hallo, Marie! Kürzlich ist mit „Neon Birds“ der Auftakt Deiner neuen Cyberpunk-/Solarpunktrilogie bei Bastei Lübbe erschienen. Was erwartet die Leser?
Marie Graßhoff: Hallo Judith, danke schon mal an dieser Stelle für das Interview. Klasse, dass ich „hier“ sein darf! In „Neon Birds“ erwartet den Leser eine actiongeladene Geschichte rund um vier junge Erwachsene, die versuchen, ihre Welt (und ihre geliebten Personen) vor der künstlichen Intelligenz KAMI zu schützen. Hinter den offensichtlichen Wahrheiten, die dieser Welt zugrunde liegen, gibt es einige Rätsel, denen die Leser gemeinsam mit den Protagonisten auf den Grund gehen können.
Literatopia: Wie hat sich die Welt im Jahr 2101 politisch und gesellschaftlich verändert?
Marie Graßhoff: So einiges! Nach einem langandauernden Kalten Krieg und dem darauffolgenden Militärputsch um 2070 herum wurden sämtliche Regierungen der „Neon Birds“-Welt unter einer einzigen vereint. Die Welt im Jahr 2101 ähnelt einem Militärstaat, dessen Zentralrat teils sehr liberale Ansätze verfolgt. Zum Beispiel erhält jeder Mensch ein Grundeinkommen und kostenlosen Zugang zu Wasser, Internet und Strom, außerdem gibt es Prämien für das Anbauen von Pflanzen und Gewächsen. Gesellschaftlich gibt es eine Rückbesinnung auf handwerkliche Berufe und Gemeinschaft - ein Wandel, der auch vom Staat unterstützt wird, vor allem zugunsten der Umwelt.
Abgesehen davon gibt es neue Religionen, neue Randgruppen, neue Technologien und vieles mehr, das der Leser im Laufe des Buches kennenlernen kann.
Literatopia: Auf Deinem Blog hast Du einen Artikel über Solarpunk veröffentlich. Was zeichnet das Genre aus? Und welche Gründe haben wir, an eine positivere Zukunft zu glauben?
Marie Graßhoff: Solarpunk-Welten wie die „Neon Birds“-Welt zeichnen sich durch ein sehr grünes, sehr anti-kapitalistisches Setting aus, in dem für gewöhnlich Energie- und Umweltprobleme gelöst wurden, bzw. in dem die Menschheit zumindest auf einem guten Weg dorthin ist. Diese Art von Welt zu erschaffen, im Kontrast zu vielen sehr düsteren Zukunftswelten, war wirklich erfrischend.
Darüber, wie realistisch es ist, dass unsere Welt einmal so aussehen wird, kann man selbstverständlich diskutieren. Allerdings ist, meiner Ansicht nach, der Glaube an eine gute Zukunft essenziell. Denn woher soll man ohne Hoffnung die Energie finden, etwas zu ändern? Es gibt viele gute Tendenzen in unserer aktuellen Welt, die wir uns nur vor Augen führen müssen. Und schon ist es gar nicht mehr so schwer, an eine grüne Zukunft zu glauben und darauf hinzuarbeiten.
Literatopia: Erzähl uns mehr über KAMI. Wie ist die Künstliche Intelligenz entstanden? Und inwiefern kontrolliert sie die Cyborgs?
Marie Graßhoff: KAMI entstand ursprünglich als Militärprojekt im Zuge des zweiten kalten Krieges, der die Welt zwischen 2060 und 2070 in Atem hielt. Es basiert auf einer Nanotechnologie, bestehend aus verschiedenen Schwärmen an Nanocomputern, die Soldaten injiziert wurden, um ihre körperliche Leistungsfähigkeit zu steigern. KAMI war schon in der Urform darauf programmiert zu lernen, um sich menschlichen Körpern anpassen zu können. Dass das Programm allerdings deutlich schneller lernte und sich schneller weiterentwickelte als gedacht, führte zu diversen Schwierigkeiten (gelinde gesagt) ,mit denen die Menschen auch 30 Jahre später noch zu kämpfen haben.
Wie genau KAMI die Menschen steuert und kontrolliert, die es befallen hat – und warum die Moja sich so verhalten wie sie es tun – ist auch für die Menschen aus „Neon Birds“ lange ein Mysterium. Eines, das im Laufe der Reihe aufgeklärt werden soll.
Literatopia: Okijen ist der im Klappentext angekündigte „Supersoldat, der seine glorreichen Tage hinter sich hat“. Entgegen der Erwartung ist er ein sehr empathischer, freundlicher Charakter. Wie hat er sich diese positive Ausstrahlung trotz der traumatischen Erlebnisse beim Militär bewahrt? Und wie sieht es in seinem Inneren aus?
Marie Graßhoff: Okijen hat tatsächlich ein sehr weiches Herz, was allerdings nie im Kontrast zu seiner Arbeit stand. Er nutzte den Kampf gegen die Moja lange, um die Verluste seiner Vergangenheit zu verwinden – bis zu einem Punkt, an dem er erkannte, dass er Feuer nicht mit Feuer bekämpfen kann. Seine Menschlichkeit hat er sich über alldem jedoch nie verloren – im Gegenteil. Er war immer jemand, der seine Freunde und seine Familie über sich selbst stellte. Der für andere kämpfte, obwohl er oft nicht einmal die Energie besaß, seine eigenen Kämpfe auszufechten. Die Ereignisse, wegen denen er das Militär vor zwei Jahren verlassen hat, haben ihm extrem zugesetzt. Trotzdem hat er sich selbst nie aufgegeben.
Sein Inneres ist keine leuchtende Sonne; er ist nicht immer fröhlich und viele Dinge nagen noch sehr an seinem Herzen. Trotzdem steckt Okijen voller Hoffnung und Mut auf eine bessere Zukunft. Und solange er eine Chance sieht, seine Freunde und seine Welt zu beschützen, nutzt er sie, ohne lange darüber nachzudenken.
Literatopia: Andra ist in einem Dorf nahe einer Sperrzone aufgewachsen. Wie war das Leben dort? Und wie reagiert sie auf Großstädte wie Ulan Bator?
Marie Graßhoff: Andra ist tief verwurzelt mit ihrem Dorf und der Gemeinde, in der sie ihr Leben lang gelebt hat. Im Gegensatz zu den großen Städten ist das Leben der Yuna – Andras Volk – recht simpel gestrickt. Sie sammeln, jagen und bauen sich ihre Häuser und Hütten aus Schrott zusammen, den sie von den alten Mülldeponien suchen. Ein simples, aber auch sehr ruhiges Leben. Als Jägerin hat Andra allerdings trotzdem eine besondere Position in ihrem Dorf inne, weil viele Yuna ihres Alters den Stamm verlassen, um in die Stadt zu gehen.
Selbst eine der Städte zu besuchen ist für Andra eine eigenartige, aber keine negative Erfahrung. Sie stellt tatsächlich fest, dass die Metropolen nicht halb so kühl und hässlich sind, wie sie sie sich immer vorgestellt hat. So viel Menschlichkeit und Grün zwischen den Wolkenkratzern zu finden überrascht sie tatsächlich sehr.
Literatopia: Flover ist Mitglied der streng geheimen Militärorganisation KAGE. Was ist deren Aufgabe? Und warum verzweifelt Flover zunehmend daran?
Marie Graßhoff: Die Aufgabe von KAGE ist es, Moja, die außerhalb der Sperrzonen auftauchen, aufzuspüren und zu eliminieren. Entgegen des Wissens der Bevölkerung wurde KAMI nämlich nie komplett unter Kontrolle gebracht. Es geschieht regelmäßig, dass sich KAMI in einem Menschen festsetzt und ausbricht. Um eine Verbreitung zu verhindern, müssen infizierte Personen deswegen so schnell wie möglich aufgespürt und getötet werden. Denn die Möglichkeit, KAMI aus einem Körper zu entfernen, gibt es nicht.
Flover verzweifelt daran, weil er einerseits weiß, dass er die Menschheit mit seiner Arbeit beschützt. Andererseits setzt es ihm zu, Menschen töten zu müssen, die noch bei vollem Verstand sind und oft gar nicht wissen, wie ihnen geschieht.
Literatopia: Kadett Luke wirkt beinahe zu sanft fürs Militär, verfolgt seine Ziele aber mit großem Ehrgeiz. Was treibt ihn an?
Marie Graßhoff: Luke ist eine sanfte Seele und hätte sich nie vorstellen können, zum Militär zu gehen, das stimmt. Er liebt Pflanzen und Tiere und wäre am liebsten Gärtner geworden, mit einer eigenen kleinen Hütte irgendwo im Nirgendwo, umgeben von Blumen. Was ihn dazu antreibt, sein Studium an der Militärakademie durchziehen, ist auf ein Ereignis zurückzuführen, das schon einige Jahre zurückliegt. Was damals geschehen ist, ist allerdings sein größtes Geheimnis.
Literatopia: Die Illustrationen zu „Neon Birds“ und auch der Inhalt erinnern an japanische (Cyberpunk)-Animes. Waren diese tatsächlich Inspiration für Deine Trilogie?
Marie Graßhoff: Meine Inspiration kommt aus vielen verschiedenen Ecken, sowohl von westlichen Cyberpunk-Einflüssen als auch von asiatischen. Ich liebe Anime sehr, deswegen blicken da vermutlich immer wieder Elemente durch.
Literatopia: Was reizt Dich persönlich an Science Fiction? Und was war Deine „Einstiegsdroge“?
Marie Graßhoff: Ich bin glaube ich schon into Science Fiction, seitdem ich geboren wurde. Mein Papa ist der größte SciFi-Fan und laut meiner Mama war der erste Film, den ich als Baby gesehen habe, „2001: Odysee im Weltraum.“ Danach ging es dann weiter mit „Star Trek“, „Star Wars“ und den ganzen Klassikern. Im Grunde waren das alle meine Einstiegsdrogen. SciFi konsumiere ich auch noch immer so viel wie es geht, sowohl in Form von Büchern als auch von Serien und Filmen – und sowohl Space Operas, als auch Dystopien, Cyberpunk und alles, was ich eben so finde. Für mich ist es einfach das coolste Genre und wird auch am ehesten meinen ästhetischen Ansprüchen gerecht.
Literatopia: Bereits im Grundschulalter hast Du Dir Geschichten ausgedacht und aufgeschrieben. Wovon handelten Deine ersten Werke?
Marie Graßhoff: Also meine erste Geschichte war die von einer kleinen Katze, die in einen Topf mit Farbe fällt, haha. Mein erster Roman handelte von einem Mädchen, das sich in einen Drachen verliebt. SciFi-mäßige Ideen hatte ich zwar auch schon immer, als ich so jung war hatte ich aber immer das Gefühl, noch nicht genug Ahnung zu haben, um etwas in der Richtung zu schreiben.
Früher habe ich aber auch deutlich mehr Gedichte geschrieben.
Literatopia: Hast Du noch Zeit zum Lesen? Welcher Roman hat Dich zuletzt so richtig begeistert?
Marie Graßhoff: Tatsächlich hab ich 2019 wesentlich mehr Manga gelesen als Romane. Sogar mehrere hundert. Das will ich dieses Jahr ändern (immerhin ist lesen für Autoren auch eine Form der Weiterbildung.) Meine liebster Manga 2019 war übrigens „My Hero Academia“.
Literatopia: Die Folgebände „Cyber Trips“ und „Beta Hearts“ erscheinen jeweils im Abstand von ein paar Monaten. Kannst Du uns vielleicht schon verraten, wie es nach „Neon Birds“ mit Okijen, Andra, Flover und Luke weitergeht?
Marie Graßhoff: Für die Charaktere geht’s natürlich sehr nervenaufreibend weiter, „Cyber Trips“ schließt nämlich nahezu nahtlos an die Ereignisse aus Neon Birds an.
Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!
Marie Graßhoff: Ich danke auch! Hat Spaß gemacht! (:
Autorenfotos: Copyright by Marie Graßhoff
Autorenhomepage: https://marie-grasshoff.de
Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.