Die Inseln (Amitav Ghosh)

Blessing (2019)
Originaltitel: Gun Island)
Übersetzer*innen: Barbara Heller, Rudolf Hermstein
Hardcover
368 Seiten, 22,00 EUR)
ISBN: 978-3-89667-646-7

Genre: Belletristik


Klappentext

Eine Welt in Bewegung. Hunderttausende Menschen auf der Flucht vor den Naturkatastrophen in ihrer Heimat. Vier Schicksale, verwoben durch eine geheimnisvolle, bengalische Legende.


Rezension

Es lohnt sich vielleicht, vor der Lektüre von „Die Inseln“ „Die große Verblendung“, Ghoshs Sachbuch über die Wahrnehmung des Klimawandels, zu lesen, denn mit diesem Roman scheint er umzusetzen, was er dort gefordert hat: Eine Geschichte, die nicht die Regelmäßigkeiten des bürgerlichen Lebens und eine Welt abbildet, in der es, wenn überhaupt, nur schleichende Veränderungen gibt. Stattdessen tritt in „Die Inseln“ das Epische und Unwahrscheinliche in den Vordergrund. Die Figuren sind sich bewusst, dass sie in einer Welt im Umbruch leben, und ihre Interaktionen mit der nicht-menschlichen Umwelt nehmen ebenso viel Raum ein wie ihre Interaktionen miteinander. Auch scheint die Handlung scheint den Figuren, die an das Übernatürliche glauben, ein Stück weit recht zu geben.

Die Geschichte beginnt mit einem recht blassen Protagonisten, der auch in ihrem weiteren Verlauf nicht so recht an Profil gewinnen will, obwohl seine Biographie und sein Betätigungsfeld durchaus interessant klingen: Ich-Erzähler Dinanath („Deen“) Datta ist ein Kalkutta geborener und aufgewachsener, älterer Antiquar, der seit Jahren in Brooklyn wohnt, aber nach dem Ende einer vielversprechenden Beziehung beschließt, in Indien zu überwintern. Dort stößt er auf eine mündlich weitergegebene bengalische Legende aus dem 17. Jahrhundert, die sein Interesse weckt: Die Geschichte eines „Gewehrhändlers“, der den Zorn einer Schlangengöttin auf sich zog. Er beschließt, einen Schrein in den Sundarbans zu besuchen, der mit diesem in Verbindung steht. Dabei lernt er mehrere Menschen kennen, deren Wege sich immer wieder mit seinem kreuzen werden: die Meeresforscherin und Umweltaktivistin Piya, Rafi, der auf den Schrein aufpasst, und den ehrgeizigen, technikaffinen Tipu.

Seine Exkursion nimmt eine unerwartete Wendung, und die Geschichte des Gewehrhändlers wird ihn lange nicht loslassen, begleitet ihn nach Los Angeles und Venedig. Der Schrein selbst wird bald von Hochwasser zerstört – ein Motiv, das sich durch den ganzen Roman zieht, denn wo Dinanath auch hinkommt, erwarten ihn Waldbrände, das Massensterben von einheimischen Tierarten und Gefahren durch eingewanderte Arten. Immer wieder begegnen ihm Schlangen und Spinnen. Venedig und die Sundarbans erweisen sich als Spiegelbilder – Orte, an deren hölzernem Fundament kleine Tiere nagen und die allmählich steigendem Wasser zum Opfer fallen.

Nach und nach findet Dinanath mit der Hilfe von Cinta, einer italienischen Forscherin, mehr über den „Gewehrhändler“ heraus, und in diesem Zusammenhang auch mehr darüber, was Europa und Südasien, die Gegenwart und das 17. Jahrhundert verbindet. „Die Inseln“ lässt sich insgesamt als ein Roman über überraschende Verbindungen bezeichnen. Auch zeichnet das Buch – korrekterweise – das Bild einer Welt, in welcher Menschen schon seit Jahrhunderten ins Ungewisse aufbrechen. Dinanath lernt mehr über einen faszinierenden historischen Reisenden, aber lauscht auch den erschreckenden Geschichten geflüchteter Bengalen, denen er in Europa begegnet. Fun-facts über den historischen Buchdruck, die jedoch auch elegant mit Dinanaths Biografie verbunden werden, wechseln sich mit weitaus unbehaglicheren Informationen ab. Und immer wieder geht es darum, wie die Leben von Menschen von ihrer Umwelt bestimmt werden.

Dinanath sieht sich in die Rolle des Protagonisten einer spektakulären Geschichte gestoßen, in der sich ein unwahrscheinlicher Zufall an den anderen reiht und sogar übernatürliche Phänomene gar nicht so unmöglich wirken. Die Rolle, die andere Figuren in seinem Leben spielen, das Zusammenfallen von Ereignissen und schließlich das ebenso spektakuläre wie kitschige Ende passen gut dazu, dass hier die Geschichte einer Figur erzählt wird, die nicht so ganz fassen kann, wie romanhaft die Ereignisse sind, die sie vor sich her treiben. Darin liegt jedoch auch eine Schwäche des Romans, denn teils überstrahlen Nebenfiguren den Protagonisten, während sie zugleich nur zu existieren scheinen, um ihm Denkanstöße zu liefern oder ihn in die Richtung zu schubsen, wo der Plot ihn braucht. Angenehmerweise spielt Ghosh bei der Gestaltung seiner Figuren mit Klischees wie dem der „magischen Minderheit“ – es ist z.B. die weiße Professorin, die offen für Legenden und Begegnungen mit dem Übernatürlichen ist, während Dinanath und Piya die Welt streng rational betrachten, und auch Rafi und Tipu überraschen im Verlauf der Handlung Dinanath ebenso wie die Lesenden. Die Sprache des Romans ist unauffällig und transportiert wenig von der Persönlichkeit des Ich-Erzählers. Es sind der Plot, die Motive und der Gegenwartsbezug, die „Die Inseln“ lesenswert machen.


Fazit

„Die Inseln“ ist ein spannender, wenn auch sprachlich unauffälliger Roman über geografische und temporale Verbindungen. Hier werden Klimawandel, Migration und das Leben in einer Zeit des Umbruchs thematisiert. Allerdings ist der Ich-Erzähler beinahe die blasseste und passivste Figur des ganzen Buchs. Die Handlung fordert Lesenden eine hohe Bereitschaft zur Aussetzung des Unglaubens ab.


Pro und Contra

+ ungewöhnliche Figuren
+ Verbindungen
+ spannende Fakten über Geschichte und Gegenwart
+ Verarbeitung von Klimawandel und Migration

-blasser Protagonist
-kitschiges Ende

Wertung:

Handlung: 4,5/5
Figuren: 3,5/5
Lesespaß: 4/5
Preis-Leistung: 3/5


Rezension zu „Die große Verblendung“