Long Bright River (Liz Moore)

moore longbrightriver

Verlag C.H. Beck, 2020
Originaltitel: Long Bright River (2019)
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Gebunden, 414 Seiten
€ 24,00 [D] | € 24,70 [A] | CHF 33,90
ISBN 978-3-406-74884-4

Genre: Kriminalroman


Rezension

Michaela "Mickey" Fitzpatrick ist 32 Jahre alt und arbeitet als Streifenpolizistin beim Philadelphia Police Department. Als Mickey und ihr neuer Partner Eddie Lafferty zum Fundort einer Drogentoten gerufen werden, befürchtet Mickey, wie immer bei solchen Einsätzen, dass es sich um ihre jüngere Schwester Kacey handeln könnte. Kacey lebt auf der Straße und finanziert ihre Drogensucht über Prostitution. Die angebliche Drogentote ist, wie sich schnell herausstellt, ein Mordopfer. Im Bezirk Kensington ist ein Serienmörder aktiv, der bislang vier junge Frauen getötet hat. Dies steigert die Angst Mickeys um ihre Schwester, und sie trifft in der Folge einige Entscheidungen, die ihr Probleme einbringen.

Long Bright River präsentiert eine Kriminalhandlung und ein Familiendrama, erzählt auf zwei Zeitebenen, die mit "damals" und "jetzt" bezeichnet sind. Hinzu kommen zwei mit "liste" überschriebene Namensübersichten. In den Erinnerungen der Ich-Erzählerin Mickey erfahren wir, wie die beiden Schwestern in Kensington bei ihrer Großmutter Gee aufgewachsen sind, einer verbitterten Frau, die nach dem Tod ihres Mannes mit Männern nichts mehr zu tun haben wollte und sich vom Drogentod ihrer Tochter nie erholt hat. Mickey erzählt, warum sie und Kacey sich auf extrem unterschiedliche Lebenspfade begeben haben und sie schon in sehr jungen Jahren zum Mutterersatz für Kacey wurde. Während Kacey langsam in die Drogenszene hineingeriet, kümmerte sich der Polizist Simon Cleare in einem Sozialprogramm um die 14-jährige Mickey. Simon war der Grund, warum sie Polizistin werden wollte. Aber er kümmerte sich dann doch ein wenig zu sehr um Mickey.

Die einander entfremdeten Schwestern haben seit Jahren nichts mehr miteinander zu tun. Aber Mickey ist Kacey tief verbunden und in ständiger Sorge um sie, scheint geradezu besessen von der Vorstellung, Kacey könne als Drogentote enden. Mickey versucht während ihrer Arbeit auf Kacey aufzupassen, sie erfährt von Leuten auf der Straße oder in Geschäften mitunter etwas über Kacey. Aus Sorge um Kacey verzichtet Mickey darauf, eine Ausbildung zum Detective zu absolvieren, weil sie dann nicht mehr in ihrer Nähe sein könnte. Mickey ist durch ihre Lebensbedingungen ein sehr interessanter und komplizierter Charakter. Die alleinerziehende Mutter kümmert sich liebevoll um ihren vierjährigen Sohn, den sie beruflich bedingt nicht so oft sieht, wie sie gerne möchte. Sie war einmal angetreten mit dem Wunsch, ihre Nachbarschaft durch ihre Arbeit zu verändern, was ihr natürlich nicht gelingen konnte.

Philadelphia ist eine Stadt im Übergang, der entlang einer Abwärtsspirale vollzogen wird. Kensington wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Kronjuwel Philadelphias bezeichnet, war später dann ein Arbeiterviertel und ist infolge des wirtschaftlichen Niedergangs heute verarmt, bestimmt durch leerstehende Wohnhäuser und Geschäfte. Ein Existenzraum für Obdachlose, Prostituierte und Drogenabhängige. Kensington ist ein organischer Bestandteil der Erzählung, vergleichbar den Stadtinszenierungen in Klassikern des Hardboiled Kriminalromans. Mickey und Kacey stehen für den Möglichkeitenraum in dieser Transitionsphase.

Nachdem ich die ersten Seiten von Long Bright River gelesen hatte, habe ich im WWW die Stichworte "Philadelphia" und "Opioid" eingegeben, um zu überprüfen, ob es in Philadelphia tatsächlich so schlimm ist wie im Roman beschrieben. Aubrey Whelan hat am 21.01.2020 im Inquirer den Artikel veröffentlicht: How Philly plans to combat the nation’s worst big-city opioid crisis in 2020. Der Wirkstoff Oxycodon, enthalten im verschreibungspflichtigen Medikament Oxycontin, ist in den gesamten USA ein großes Problem, wobei Philadelphia führend ist. Whelan schreibt: "Philadelphia is home to the worst urban opioid crisis in America". Mehrere zehntausend Menschen sind abhängig von diesem Schmerzmittel, die Zahl der Toten lag allein in den vergangenen drei Jahren bei über 3000. Dieses Wissen beeinflusst natürlich die Lektüre des Romans.

Das Motiv des Serienkillers, das in vermutlich all seinen Möglichkeiten ad nauseam durchgekaut und plattgeschrieben wurde, spielt kaum eine Rolle, ebenso prozedurale Polizeiarbeit. Auch die Opioid-Krise bestimmt den Roman nicht, schwingt aber über allem wie das berühmte Pendel von Edgar Allen Poe. Woran Moore zu liegen scheint: eine moralische Geschichte zu erzählen, in der die Guten und die Bösen gelegentlich zusammenarbeiten, mitunter auch die Seiten wechseln. Dadurch wird die Frage interessant, wer auf der richtigen Seite steht, gesetzlich wie moralisch, und ob beides das Gleiche ist.

Moores Ich-Erzählerin führt uns an dunkle Orte. Sie erzählt von einer Welt, in der dysfunktionale Familien der Normalfall sind. Und sollte sich eine funktionierende Familie finden, handelt es sich um die Abweichung.


Fazit

Liz Moore erzählt in Long Bright River eine Kriminalgeschichte und ein Familiendrama. Die privaten und sozialen Kosten der Opioid-Krise bilden den Hintergrund für das Familiendrama und verbinden es mit dem Kriminalfall. Die problematische Kindheit der Schwestern führt in ein problematisches Erwachsenenleben, eine früh entstandene tiefe Bindung wird später schweren Belastungen ausgesetzt, jedoch nicht zerstört. Das Erzähltempo ist langsam, eher elegisch denn melancholisch.


Pro und Kontra

+ gesellschaftspolitisch wichtiges Thema
+ städtischer Raum organischer Bestandteil der Handlung

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5