Der Hof der Wunder (Kester Grant)

Piper (Dezember 2019)
Übersetzt von Andreas Decker
Klappenbroschur, 416 Seiten, 17,00 EUR
ISBN: 978-3-492-70501-1

Genre: alternative Historik


Klappentext

In den dunklen Tagen nach der gescheiterten Französischen Revolution regieren Gewalt und Tod in Paris. Neun verbrecherische Gilden haben die Stadt unter sich aufgeteilt. Die junge Nina gehört zur Diebesgilde und genießt dadurch Schutz vor den Gefahren der Unterwelt. Bis zu dem Tag, an dem sie ihre Schwester vor Kaplan, dem finstersten aller Gildenführer, retten will. Die Waise Ettie soll ihr dabei helfen. Aber eine Hungersnot beschwört eine neue Revolution herauf, und Nina und Ettie finden sich plötzlich in einem Spiel wieder, das nicht nur ihr Leben, sondern bald auch ganz Paris bedroht ...


Rezension

Anfang des 19. Jahrhunderts erlebt Paris seine dunkelsten Stunden. Die Französische Revolution ist gescheitert, die Helden des Volkes von Madame Guillotine enthauptet. Der Adel lebt weiterhin in Saus und Braus, während die einfachen Menschen täglich mit Hunger, Krankheit und Gewalt konfrontiert werden. Nina arrangiert sich mit den Verhältnissen so gut es geht, doch als der Vater ihre geliebte große Schwester an den Tiger, den Herrn der Gilde des Fleisches, verkauft, zerbricht ihre Welt. Um Nina vor ihrem Vater zu beschützen, lässt ihre Schwester (als letzte Tat) sie zur Diebesgilde bringen, wo sie fortan unter dem Schutz des Gildenvaters Tomasis steht. Doch Nina will ihre Schwester nicht aufgeben. Jahrelang plant sie deren Befreiung, macht sich am Hof der Wunder als Schwarze Katze einen Namen und versichert sich der Hilfe von Gildenmeistern, Revolutionären und selbst der des Dauphins von Frankreich …

“Der Hof der Wunder“ spielt in einer alternativen Zeitlinie, in der die Französische Revolution niedergeschlagen wurde. Elend und Tod regieren Paris. Die Unterwelt der Stadt wird von den neun Gilden des Hofs der Wunder beherrscht. Diebe, Bettler, Schmuggler, Meuchelmörder und Rauschgifthändler vereinen sich unter dem Gesetz des Hofs, doch inmitten der Kriminellen gibt es einen Schandfleck: Kaplan, der Herr der Gilde des Fleisches, der sich selbst als Tiger bezeichnet. Er ist ein Menschenhändler und setzt Frauen und Mädchen unter Drogen, um sie in seinen Bordellen gefügig zu machen. Der Tiger bricht das Gesetz des Hofes, doch niemand wagt, ihm die Stirn zu bieten, da niemand einen Gildenkrieg riskieren will. Zudem ist der Tiger mit Sklavenhändlern verbündet. Daher ist Nina bei ihrem Vorhaben zunächst auf sich allein gestellt.

Um ihre Schwester zu befreien, will sie den Tiger mit einem anderen Mädchen bezahlen. Ettie ist eine Waise und wunderschön. Ninas Plan geht auf, der Tiger will sie um jeden Preis haben – doch Nina bringt es nicht übers Herz, Ettie dem grausamen Menschenhändler auszuliefern. Das naive Mädchen ahnt nichts davon, dass Nina sie benutzen wollte und sieht in ihr eine große Schwester. Um Ettie zu schützen, bringt Nina sie bei einer der Gilden unter und wagt riskante Diebstähle, um die Sicherheit des Mädchens zu erkaufen. Ihr Weg ist von Niederlagen und Gewalt geprägt, doch sie erringt auch knappe Siege. Nina entwickelt sich zu einer meisterhaften Diebin, die ihre Verbündeten manipuliert und jeden benutzt, der sie ihrem Ziel näherbringt. Doch sie hat auch Skrupel und riskiert nicht nur einmal ihr Leben für andere. Kester Grant hat mir ihr eine ambivalente Protagonistin geschaffen, die sich mit ihrer Intelligenz durchsetzt und sich trotz Verrat und Misshandlung ihre Menschlichkeit bewahrt. Gleichzeitig ist sie von ihren Erfahrungen gezeichnet und bereit, andere zu opfern, auch wenn es sie unerträglich schmerzt.

Nina zur Seite steht unter anderem der Revolutionär Saint-Just, der ihre Verbindungen zur Unterwelt für seine Umsturzpläne braucht. Zwischen den beiden entsteht eine fragile Freundschaft, die mehrmals auf die Probe gestellt wird. Zudem gibt es eine besondere Verbindung zwischen Nina und Montparnasse, dem finsteren Meister der Gilde der Meuchelmörder. Er unterstützt die Diebin, doch seine Motive bleiben lange im Dunkeln. Und dann wäre da noch der Dauphin von Frankreich, der von Nina bestohlen wird und von ihr fasziniert ist. Während Saint-Just und Montparnasse völlig gegensätzliche und gut ausgearbeitete Charaktere sind, dient der Dauphin offenbar nur dazu, Handlungslücken auszufüllen. Mit seiner Macht als Dauphin kann er Ninas Probleme mit Leichtigkeit lösen. Doch zu mehr taugt er nicht und bleibt ein blasser Statist. Ebenso wie Tomasis, den Nina als Vater bezeichnet und dem sie vertraut und ihn verehrt – doch greifbar wird dieses innige Verhältnis nicht, da die Entstehungsphase dieses Vertrauens zeitlich übersprungen wird.

Die ersten Kapitel erscheinen recht konstruiert. Sie dienen dazu, Nina eine Motivation für ihr Handeln zu geben und legen den Grundstein für zukünftige Ereignisse. Dabei wirken sie zu schnell heruntererzählt – als würde die Autorin eine Liste abhaken. Doch als Nina bereits ein vollwertiges Mitglied der Diebesgilde ist und beginnt, ihren verschachtelten Plan zur Befreiung ihrer Schwester zu spinnen, gelingt es Kester Grant, ihre Leser in den Bann zu ziehen. Auch wenn es keinerlei Magie in „Der Hof der Wunder“ gibt, wirkt die Geschichte magisch. Der Hof der Wunder und seine Kriminellen üben eine morbide Faszination aus, welche von fiktiven Mythen verstärkt wird. Zudem scheint es, als wären die Verbrechergilden „die Guten“, da sie den Adel bestehlen und bestrafen, der das Volk verhungern lässt und sogar absichtlich dezimiert. Die dichte Atmosphäre tröstet dabei über so manchen Fehler im Handlungsaufbau hinweg, ebenso wie die Tatsache, dass es sich um ein Debüt handelt.

Obwohl Kester Grant eine britisch-mauritische Schriftstellerin ist, sind die deutschen Leser zuerst in den Genuss von “Der Hof der Wunder“ gekommen. Die englische Ausgabe „The Court of Miracles“ erscheint erst im Juni 2020. Wer einen Blick darauf wirft, sieht, dass es sich um den ersten Band einer Trilogie handelt. Man kann „Der Hof der Wunder“ jedoch auch als Einzelroman wunderbar lesen, wenn man offene Enden mag. Dennoch wäre es wünschenswert, wenn die Folgebände ebenfalls bei uns erscheinen. Was allerdings die Krähe auf dem Cover soll, erschließt sich nach der Lektüre nicht – eine schwarze Katze wäre passender gewesen.


Fazit

”Der Hof der Wunder” ist finster und gnadenlos. Das alternative Paris übt eine morbide Faszination aus, ebenso wie die kriminellen Gilden, die nach ihren eigenen Gesetzen leben und dabei edler als der prunkvolle, unmenschliche Adel erscheinen. Nina, die Schwarze Katze der Diebesgilde, ist ein herrlich ambivalenter Charakter, der mit Herz und Verstand für eine gute Sache kämpft und dafür sprichwörtlich über Leichen geht.


Pro und Contra

+ Nina überzeugt mit Herz und Verstand
+ Ninas dunkle, manipulative Seite
+ Saint-Just und sein Glaube an eine bessere Zukunft
+ der finstere Meuchelmörder Montparnasse
+ grandioses Setting im alternativen Paris
+ fiktive Mythen, die dem Hof der Wunder eine Vergangenheit geben
+ finster und atmosphärisch geschrieben

- Anfangskapitel wirken zu konstruiert
- kleine Fehler im Handlungsaufbau
- manch wichtiger Charakter bleibt zu blass

Wertungsterne4

Handlung: 3,5/5
Charaktere: 3,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 3,5/5

Tags: Heist, historische Fantasy, Diebe