Giovannis Zimmer (James Baldwin)

Baldwin Giovannis Zimmer

dtv, 2020
Originaltitel: Giovanni’s Room (1956)
Übersetzung von Miriam Mandelkow
Mit einem Nachwort von Sasha Marianna Salzmann
Gebunden, 208 Seiten
€ 20,00 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,91
ISBN 978-3-423-28217-8

Genre: Belletristik


Rezension

Der junge Amerikaner David verbringt in den 1950er Jahren ein paar Monate ohne seine Verlobte Hella in Paris, weil sie in Spanien über ihre Zukunft und die Ehe nachdenken möchte. David beginnt eine Affäre mit dem Italiener Giovanni, die durch ein belastendes Wechselspiel aus Begehren und Scham geprägt ist. Beide haben kaum Geld und wohnen zur Miete in Giovannis kleinem Zimmer. Als Hella ihre Rückkehr nach Paris ankündigt, verlässt David Giovanni und setzt so eine Abfolge von Ereignissen in Gang, die in eine Katastrophe führen.

Giovannis Zimmer ist in einem ernsten Ton gehalten, als würde der Ich-Erzähler David ein Geständnis ablegen, dieses während der Nacht, die ihn dem grauenhaften Morgen entgegenbringt, an dem Giovanni hingerichtet wird. In seiner Jugend hatte David eine einmalige sexuelle Begegnung mit einem anderen Jungen, Joey, die in ihm Gefühle von Scham und Schuld erzeugt hat, welche ihn durch sein Leben begleiten. David verließ sein Zuhause Richtung Paris in einer Fluchtbewegung vor sich selbst.

Giovannis Zimmer erzählt von Überschreitungen sozialer Normen und von Strategien, oft selbstschädigenden, mit und nach diesen Überschreitungen weiterleben zu können. Die Hauptfiguren führen fast alle ein Leben, das man nicht als glücklich bezeichnen kann. In dieser Situation finden David und Giovanni in eine Beziehung, deren Ende vorgezeichnet ist, wie der Tod Giovannis, weil dieser schon gleich zu Beginn der traurig-ernsten Erzählung erwähnt wird. Bereits im ersten Satz ist erkennbar, dass die Handlung düster endet. Nur ist unklar, was auf diesem Weg alles wie beschädigt oder zerstört wird.

Davids Beziehung zu Giovanni und zu Hella weist Parallelen auf, seine Gefühlswelt ist instabil. Welchen Begriff von Liebe hat David, einen romantischen, einen pragmatischen und zielgerichteten? Lässt sich Liebe als Bedingung für Sexualität behaupten? In einem Moment empfindet David tiefe Liebe für Giovanni, im nächsten sieht er einen Fremden, den er äußerlich anziehend findet und den er wie Giovanni liebt. Dieses Verhältnis, in dem Liebe und Sexualität zu stehen scheinen, findet schlussendlich auch den Weg in Davids Nachdenken über seine Beziehung zu Hella.

Davids Sozialisierung als Angehöriger der protestantischen Weißen mit angelsächsischen Wurzeln bestimmt das Denkgebäude, in dem er sich zurechtfinden muss und aus dem er auszubrechen versucht. David, Giovanni und Hella sind nur stabile Individuen, insoweit sie den Normen ihrer Sozialisierung entsprechen. Hella will für David ausdrücklich eine bürgerliche Ehefrau sein, damit sie sich als Frau fühlen kann. Sie sagt, ihr sei egal, was er mit ihr mache, er solle sie aber bitte eine Frau sein lassen.

„Ich trat zurück. Sie wankte, wo ich sie stehen gelassen hatte, wie eine Marionette an einem Faden.“

Giovannis Zimmer erzählt unter der Oberfläche auch davon, wie Opportunitäten dazu führen können, dass Menschen sich zu einem neuen Partner hin ausrichten, diese Ausrichtung konstruieren und anschließend jemanden aus vollem Herzen lieben. Wie man einen Menschen im einen Moment attraktiv findet und liebt, hingegen, wenn die Beziehung von einem anderen Menschen gekreuzt wird, nicht mehr liebt. Ohne dass diese Veränderung etwas mit dem gerade noch geliebten Menschen zu tun hat. Wie man die Attraktivität des einen Menschen aufbaut und die des anderen zugleich abbaut. Menschen als Beziehungsarchitekten. Schließlich die Frage, ob jemand in einer Beziehung sein Gegenüber verstehen kann, oder auch dieses Verstehen konstruiert wird, und die Frage, ob jemand dabei etwas über sich selbst erfährt.

Womit wir bei der Identitätsproblematik wären. Es geht wesentlich um die eigene Identität und wie sehr diese bestimmt wird durch externe Normen und deren Internalisierung, durch den Einfluss anderer Menschen. Und darum, wieviel man selbst dazu beiträgt.

Man vermag sich kaum vorzustellen, wie dieser Roman im Jahr 1956 in den USA aufgenommen wurde. In einem gesellschaftspolitischen Klima, in dem der Hass auf Schwarze und Homosexuelle während der auslaufenden McCarthy-Ära einen Hochpunkt erlebt und zu Verfolgung, Entfernung aus Arbeitsverhältnissen und Gewalt führt, veröffentlicht mit James Baldwin ein homosexueller schwarzer Schriftsteller einen Roman über zwei Weiße, die eine romantische und sexuelle Beziehung eingehen.

Trotz des Erfolgs seines zuvor erschienenen Romans Go Tell It on the Mountain (1953) (dt. Gehe hin und verkünde es vom Berge, 1966; Neuübersetzung als Von dieser Welt, 2018) weigerte sich Alfred A. Knopf, Giovannis Zimmer zu veröffentlichen. Nach Publikation durch Dial Press in 1956 wurde das Buch entweder ignoriert oder negativ bewertet. So ist Giovannis Zimmer an der Schnittstelle von Realität und Literatur auch zu einem Buch über Rassismus geworden.


Fazit

James Baldwin erzählt in Giovannis Zimmer zwei Liebesgeschichten, die auf ähnliche Weise den Begriff der Liebe zur Disposition stellen. Im Beziehungsgeflecht von Liebe, Sexualität, Gewalt, Verlust und Gender werden zugleich Fragen von Scham und Schuld thematisiert.


Pro und Kontra

+ feinfühlige Behandlung von Fragen männlicher Identität und Sexualität
+ Auslotung von Scham, Selbsthass und sozialer Ausgrenzung

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5