Shadowrun - Marlene lebt (David Grade)

marlene lebt

Pegasus Spiele (Juni 2019)
Taschenbuch, 360 Seiten, 14,95 EUR
ISBN: 978-3957893420

Genre: Cyberpunk mit Fantasyelementen


Klappentext

Marlene Dietrich erwacht im Rhein-Ruhr-Megaplex des Jahres 2078. Megakonzerne wollen ihre Persönlichkeit, Shadowrunner ihren Körper, und Marlene will überleben. In einer Welt, in der die Magie erwacht ist, Menschen, Elfen, Zwerge, Orks und Trolle ihre Körper mit Cyberware erweitern und die allgegenwärtige Matrix den Alltag mitbestimmt, gerät die Diva, der Vamp, die Legende zwischen alle Fronten: übermächtige Drachen, menschenfressende Ghule, Execs, die Angestellte versklaven und zu willenloser Sexarbeit zwingen, gnadenlose Runner und der Abschaum in den Schatten. Wird Marlene die Sechste Welt überstehen und das Rätsel ihrer Existenz lösen?


Rezension

Marlene Dietrich wurde im deutschen Kaiserreich geboren, hat sich im Zweiten Weltkrieg den Nazis widersetzt, wurde als Volksverräterin gebrandmarkt und zur Heldin stilisiert. Nun ist sie alt und müde – und mehr als verwundert, als sie plötzlich wieder jung und schön ist. Noch mehr wundert sie sich über ihre veränderte Wahrnehmung und die komischen Augmented-Reality-Objekte, die in ihrem Blickfeld herumschwirren. Zu allem Übel soll sie für zwielichtige Anzugträger in einem Bordell arbeiten. Bevor Marlene begreift, was das alles soll, wird sie von Shadowrunnern extrahiert – die behaupten, ihr Körper sei gestohlen und sie nicht mehr als ein Personaprogramm, das gelöscht werden soll. Marlene ist schockiert, doch sie hat schon Schlimmeres überstanden und wird auch im Jahr 2078 zurechtkommen. Um ihre Existenz zu sichern, geht sie Bündnisse mit Runnern und sogar mit Drachen ein, und bald steht nicht mehr allein ihr Leben auf dem Spiel …

“Marlene lebt“ ist der zweite „Shadowrun“-Roman von David Grade, der mit Marlene Dietrich eine Hollywood-Ikone ins Chaos der Sechsten Welt stürzt. Aufgrund ihres bewegten Lebens ist Marlene enorm anpassungsfähig, zudem versteht sie sich darauf, Metamenschen auf ihre Seite zu ziehen. Auch als sie erkennt, dass sie „nur“ ein Programm ist, behält sie ihren starken Willen. Denn egal, was sie nun eigentlich ist, sie will leben. Um jeden Preis. Marlene weiß genau, wann sie sich zusammenreißen und Härte demonstrieren muss. Sie ist sich ihrer Verführungskünste bewusst und setzt diese auch ein. Gleichzeitig ist sie eine nachdenkliche, herzliche Person, die Ungerechtigkeit und Nazis hasst. Entsprechend macht es sie krank, zu erfahren, dass auch in der Sechsten Welt Lager gebaut wurden – für goblinisierte Metamenschen. Der Autor greift reale Ereignisse auf und auch wenn es sich bei „Shadowrun“ um einen derben Mix aus SF und Fantasy handelt, so erscheint die Reaktion der Menschheit auf das Erwachen der Magie bedrückend realistisch.

Neben Marlene sind Shadowrunner und Konzernmitarbeiter handlungsrelevante Figuren. Jeder verfolgt seine eigenen Interessen, die sich mit denen anderer Charaktere überschneiden oder mit ihnen kollidieren. Hackerin 3v3 (mancher kennt sie aus „Iwans Weg“) will Marlenes Körper zurück, da es sich dabei um ihre Freundin Maria handelt. Um die Mutter ihrer gemeinsamen Tochter zu retten, würde 3v3 alles tun, allerdings muss sie auch an das Wohl des Kindes denken. Zunächst flüchtet Marlene vor 3v3, doch später ist sie gezwungen, mit der Hackerin zusammenzuarbeiten. Währenddessen kämpft Tokugawa um sein Geheimprojekt (die Personapropgramme) und um seine Position im Konzern. Um an seine Ziele zu kommen, überlässt er seinem faschistischen Schwiegervater die Erziehung seines genetisch bereinigten Sohnes und ersucht die Hilfe von menschenfressenden Ghulen. Tokugawa leidet darunter, genetisch nicht rein und somit zwischen den Kulturen zerrissen zu sein. Er ist ein ambivalenter Charakter, dessen Motivation man zwar gut nachvollziehen kann, der aber mit seiner Ideologie abstoßend wirkt.

“Marlene lebt“ ist etwas geradliniger aufgebaut als „Iwans Weg“, wobei auch hier die Perspektive oft wechselt. Der Autor wird dabei lange Zeit allen Charakteren gerecht, allerdings wird es zum Ende hin unübersichtlich. Marlene bleibt im Fokus der Handlung, doch für Tokugawa oder 3v3 bleibt kaum noch Zeit. Plötzlich geht alles sehr schnell und es wirkt ein wenig, als hätte David Grade schnell zum Ende kommen müssen. Im Nachwort merkt er auch an, dass er die vorgegebene Seitenzahl überschritten hat, dabei hätten dem Roman noch ein paar Seiten mehr durchaus gut getan. Immerhin gibt es neben reichlich Action viele nachdenkliche Momente, die zum Spiegel unserer Gegenwart werden. „Marlene lebt“ ist nicht nur ein verrücktes Shadowrunabenteuer, in dem vieles schief geht und manchmal alles ganz hervorragend funktioniert, sondern widmet sich auch intensiv den Folgen von Rassismus. Die Perspektive der Faschisten ist schwer zu ertragen, gehört aber dazu, um zu begreifen, was sie so gefährlich macht. Nebenbei stellt sich auch die Frage um Marlenes Identität, wobei für die Leser schnell klar ist, dass sie auch als Programm eine richtige Persönlichkeit ist. 

Was „Marlene lebt“ wie auch schon „Iwans Weg“ auszeichnet, ist die detailreiche Gestaltung des zukünftigen Rhein-Ruhr-Megaplexes, der zugleich vertraut und fremdartig erscheint. Trotz Fantasyelementen handelt es sich um klassischen Cyberpunk, denn egal ob Mensch, Elf oder Ork, alle sind in gleichem Umfang mit den Folgen der Urbanisierung und Technisierung konfrontiert – wobei unter den Reichen und Schönen auffällig viele Norms und Elfen sind. Für alle, die sich im Genre oder auch bei „Shadowrun“ nicht auskennen, gibt es einen ausführlichen Glossar im Anhang, der die wichtigsten Begriffe erklärt, sowie eine kleine Einführung in die Sechste Welt.


Fazit

”Marlene lebt” ist actiongeladener Cyberpunk mit klarer Kante gegen Rechts. Mit ihrem Charisma, ihrem starken Willen und vor allem mit Stil scheint Marlene alles gelingen zu können. David Grade punktet abermals mit dem deutschen Setting im Rhein-Ruhr-Megaplex und facettenreichen Charakteren, die er glaubhaft aufbaut – einzig die überhasteten Schlusskapitel trüben den Lesespaß ein wenig.


Pro und Contra

+ Marlene ist clever, stylisch und wahnsinnig sympathisch
+ facettenreiche Nebencharaktere
+ Wiedersehen mit 3v3
+ Tokugawa ist authentisch und abstoßend
+ auch Shadowrunner haben Familie
+ atmosphärisches Setting im Rhein-Ruhr-Megaplex
+ gelungener Mix aus Action und ruhigen Szenen
+ klare Kante gegen Rechts

- überstürztes Ende

Wertungsterne4.5

Handlung: 4/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Cyberpunk, Shadowrun, David Grade, Künstliche Intelligenz, queere Figuren, progressive Phantastik, deutschsprachige SF